PROTOKOLL

VON DIGITALEM UND DÜRRENMATT

 

von Paula Scharrer

 

Dropbox
Samstag, 3.9.2022 Luise & Dave-Chat:

01:07 Dave Demuth (Produzent): Hier
die neuen Roughmixes: https:// www. dropbox.com/s/dzcegttqu6/06_WennDuMagst_Rough.mp3?dl=0

02:07 Ali: wow Dave, bin begeistert <3.

Ich klicke auf den Link. Es ist bereits 9 Uhr und ich muss gleich los, trotzdem möchte ich mir anhören, was aus den Hunderten von Spuren, die wir in der letzten Woche aufgenommen haben, geworden ist. Es öffnet sich ein Tab. Viele kleine Balken sind nebeneinander aufgereiht. Dort, wo die Musik lauter ist, sind die Balken grösser, beim Break gibt es keine. Noch vor ein paar Stunden habe ich an meiner E-Gitarre gezupft, aus der die Töne über ein Kabel in einen anderen Raum, dort in einen mikrofonierten Gitarrenverstärker und von den Mikrophonen aus, in der Form von einzelnen Spuren, auf Daves Computer gelandet sind. Jetzt sind nur noch Balken übrig und in wenigen Wochen wird auf Spotify, Apple Music etc. nur noch ein einziger Balken zu sehen sein, der langsam ausgefüllt werden wird, je länger das Lied andauert.
Ich setze meine Kopfhörer auf, drücke Play und höre Alis Schlagzeug, Pauls Bass und kurz darauf meine Gitarre, Olivias E-Piano und Stimme. Es klingt, als hätten wir das alles gleichzeitig gespielt und in der Mitte des Raumes ein Mikrophon aufgestellt. Von den vielen einzelnen Spuren (allein das Schlagzeug wurde mit acht Mikrophonen abgenommen, braucht im Mix also acht Spuren) ist nichts mehr zu hören. Es ist alles eins geworden. Ich schliesse die Wohnungstüre hinter mir zu und rufe Ali an. Ich bin auch begeistert. Begeistert davon, wie echt und räumlich alles klingt, und dies, obwohl das finale Mixing und Mastering, was der eigentliche Prozess ist, um den Song natürlich und räumlich klingen zu lassen, noch gar nicht gemacht wurde. Nie hätte ich zu träumen gewagt, dass unsere Musik eines Tages so klingen würde.

 

Garageband
Vor etwa 2 Jahren (Lock down 2020) im Fräulein Luise-Chat:

Paula: Ich han en neue Song, han denkt, will mir nöd chönd probe, chönnti ihn eu efach mal schicke und denn chönd ihr euri Stimme einzeln ufnäh, damiti sie den am Compi un Garageband, sone Musigschnid-App chan zämmesetze. Chli kompliziert haha, aber han eh ned vill anders z tue.

Olivia: Ok, ich luegs mal a.

Paul: Ich au.

3 Tage später:

Paula: henders chöne aluege?

Olivia: ups vergässe, aber machs hüt no.

Paul: Sorry, bin nonig dezue cho, aber luegs die nächste Täg mal a…fänds aber cooler wämmer vllt würed warte bis mer wück chönd zämme spille, so ischs doch efach echli es chaos.

Paula: Meinsch das wür über Zoom ga?

Paul: Das hani mit de andere Band scho usprobiert, isch mega schwirig wäge verzögerig und so.

Paula: ah ja, stimmt, denn machemers doch zerschmal trotzdem so, bis mer eus chön in ächt träffe.

Paul: OK.

Die Sprachmemos, die damals nur von uns drei hin- und hergeschickt wurden, und vor allem die Endprodukte sind heute unerträglich. Damals war es die einzige Möglichkeit, zusammen Musik zu machen, und der Anfang von etwas, was nur zwei Jahre später unser aller Alltag bestimmen würde. Zwar hatten wir schon unseren Bandnamen gefunden, Fräulein Luise, nach Dürrenmatts Figur aus Der Besuch der alten Dame, nie hätten wir uns damals aber zu träumen gewagt, in den nächsten Jahren zusammen ein echtes Konzert vor echtem Publikum zu spielen, geschweige denn, zwei Jahre später die erste, professionell aufgenommene EP zu veröffentlichen. Zumal wir damals auch Aliosha, kurz Ali, noch gar nicht kannten und ihn beinahe nie kennengelernt hätten.

 

WhatsApp
November 2020

Paula: Hoi Martha, du hesch doch gseit, dass du es paar Lüt kennsch, wo Schlagzüg spilled, meinsch du chöntsch mer ächt dene iri nummere gä?

Martha: Sichi! Am beste wär de Aliosha, aber er het nume es Nokia und het drum kei WhatsApp und er spillt au scho innere andere Band, weiss aso ned öber ziit het…Chönnt der trotzdem sini Nr. schicke. Die andere 2 hend WhatsApp, dene iri Kontäkt schicki dir au.

Paula: hä, mega unpraktisch kei WhatsApp, haha. Chasch mer schomal sini Nr. schicke, aber probiers demfall zersch mal bi de andere.

Inzwischen waren wir alle zusammen physisch in einem Raum – Bandproben mit verschiedenen Schlagzeuger:innen. Etwas später hatten wir immer noch niemanden, mit dem es wirklich klappte. Und ich hatte den Typen ohne WhatsApp, der allein deswegen irgendwie suspekt wirkte, schon längst vergessen. Rein zufällig traf ich ihn einige Monate später an der Critical Mass in «Real Life». Mittlerweile hatte er auch WhatsApp und eine Woche später war er ein fester Bestandteil von Fräulein Luise.

15.8.2021 Fräulein Luise-Chat
00:41 Aliosha:
hey, mir hend efach s Band-it gwunne! Han eu so gern!

 

Instagram
15.5.2021: Dein Konto @freuleinluisee wurde erstellt.

Unterschrift des Ersten Beitrags: salud, mir sind fräulein luise
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Als ich mir mit dreizehn Jahren Instagram downloadete, waren meine Eltern sehr skeptisch. Das einzige, was sie von dieser App kannten, waren die Horrorgeschichten von Kinderentführern und Pädophilen, die sie irgendwie, irgendwo mal aufgeschnappt hatten. Als wir unseren Band-Account erstellten, lud sich meine Mutter Instagram herunter und ist bis heute immer eine der Ersten, die jedes Bild «liket». Mittlerweile folgt uns sogar meine Grossmutter. Und das nicht zu Unrecht, denn Instagram ist für junge Musiker:innen heute die Plattform, um Konzerttermine zu kommunizieren, neue Leute zu erreichen, Veröffentlichungen anzukündigen und erreichbar zu sein.

25.1.2022: Bild von uns vier, auf einem Sofa liegend.
Bildunterschrift: BIGNEWS: Amici vicini e lontani, Hüt imene Monet, am 25.2. chunnt eusi ersti Single «Marie» use. Mir freued eus riesig!! <3
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Spotify (for Artists)
Song Marie: Top countries for this Song:
 
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Paul weiss seit unserer ersten Veröffentlichung immer, wie viele Streams welcher Song insgesamt hat und wie viele Streams in den letzten Tagen. Ich habe nach einer Woche, in der ich während des Unterrichts fast ausschliesslich Spotify for Artist auf meinem iPad offen hatte und einige Lehrer:innen sich bei mir über fehlende Motivation für ihren Unterricht beklagt haben, aufgehört, die Zahlen zu checken. Das Problem an der Online-Musikvermarktung ist für mich vor allem das konstante Feedback, neben den offensichtlichen Problemen – namentlich die geringe Bezahlung für teils immense Arbeit und eine Abhängigkeit von Grosskonzernen. Alles ist in Statistiken angegeben. Das Erste, was man sieht, wenn man die App öffnet, ist, wie viele Personen gerade deine Musik hören. Wenn da die Ziffer 0 steht, macht das was mit einem, obwohl das eine Momentaufnahme ist und vielleicht einfach doofes Timing. In diesen Momenten habe ich die Tendenz zu vergessen, dass hinter diesen Zahlen echte Personen stecken. Nichtsdestotrotz sind gerade Plattformen wie Spotify nützlich für Newcomer, da neue Songs durch algorithmische Playlists an verschiedenste Personen in der ganzen Welt gelangen, was früher niemals in diesem Ausmass möglich gewesen wäre.

 

Live Musik
13.8.2022 20:00

Der Kirchplatz in Winterthur ist voll. Kopf an Kopf an Kopf sitzen Menschen da, von denen ich die meisten noch nie gesehen habe. Alle zusammen, insgesamt sicher über 400 Menschen sitzen da und singen. Der Text ist einfach: «Aaaaaaa». Aliosha und Paul sitzen hinter mir auf der Bühne, Olivia neben mir. Streams, Gefällt mir-Angaben, irgendwelche Spuren auf Computern und sogar WhatsApp sind in dem Moment egal. Nicht einmal Handys sind zu sehen. Schon in unserem ersten Bewerbungsschreiben an einen Veranstalter haben wir geschrieben: Wenn das Publikum an unserem Konzert gleichzeitig weint, lacht, tanzt und aus voller Kehle mitsingt, sind wir am glücklichsten. Das hat sich nicht verändert und wird es vermutlich auch nie, und die Technik in aller Ehre: Das ist digital nicht reproduzierbar. Und das ist auch gut so.
 


 

Paula Scharrer ist Teil der Band Fräulein Luise. Sie hat im letzten Juni am LG die Matur abgelegt.
Bilder: Arne Holicki


Spotify: https://open.spotify.com/artist/4JVmmu4WsDKd7tob8aZhCK
Instagram: https://www.instagram.com/fraeuleinluisee/?hl=de
Website: https://fraeulein-luise.ch/