Schlusswort

STIRB SCHNELL

Von Sarah Stüssi

 

Ich war schon lange nicht mehr in Pula gewesen; in der Wohnung, in welcher Baka, meine Grossmutter mütterlicherseits, gewohnt hatte. Alles war beim Alten: mein Zimmer mit den Schränken voller Erinnerungen, der Küchentisch, an dem wir zigmal prijatno gesagt und gegessen hatten, Bakas Nähstübchen mit ihrer Nähmaschine und ihren Stoffen und allen anderen Sachen, ihre Lesebrille auf dem Tisch. Es war, als wäre sie immer noch hier. Nur die Willkommenskikibonbons fehlten und der Staub war allgegenwärtig.  

In meinem Koffer waren: ein schwarzer Rock, Mamas alte Jeans, zwei T-Shirts, eine merkwürdige Last, die nicht von den Kleidern kam, meine Adiletten, Schlafhosen, eine schwarze Bluse, zwei Pullis, Schmuck, Unterwäsche, schwarze Schuhe, Trauer, mein Dickebuuchteddy und ein Necessaire. Ich packe immer zu viel.  

Das Begräbnis wurde auf dem Friedhof Pulas, welcher ein bisschen ausserhalb der Stadt liegt, gehalten. Umringt von Pinienbäumen und umhüllt von Meeresluft fanden hier schon tausend andere Menschen ihre letzte Ruhe. Warum fühlte es sich dann so an, als wäre dies das erste und auch letzte Begräbnis, welches hier gehalten wurde? Die Zeit stand still. Bis jetzt war der Tod meiner Grossmutter nicht echt, als würde sie sich im nächsten Moment zu uns gesellen, in einem ihrer langen, blumenbedruckten Kleider, und fragen, was wir uns denn später, wenn wir mit alledem fertig seien, zum Abendessen vorstellen würden? 

Es fühlte sich nicht echt an. Nicht echt. Nicht. Echt.  

Es kamen noch ein paar andere Verwandte, die ich nicht kannte. Sie umarmten alle nacheinander weinend meine Mutter und kondolierten. Auch das fühlte sich aus irgendeinem Grund nicht echt an. Ich trug schwarz wie alle anderen auch. Ein Violinenspieler und ein Priester gesellten sich auch zu uns. Er murmelte irgendetwas auf Kroatisch, ich vermutete kirchliche Abschiedsworte.  

 

Stille.  

 

Dann entlockte der Spieler seiner Violine schrille, schmerzhafte Töne. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper und merkte, wie meine Sicht verschwamm. Die Musikstücke zerflossen in der Frühlingsluft, ich schmeckte Salz auf der Zunge und wollte nur, dass dieser schreckliche, schreckliche Moment vorbeiging. Und dann trugen sie die Urne an ihren Platz neben ihrer ewigen Nachbarin, der Urne meines Grossvaters, den ich nie getroffen hatte. Ich dachte ständig nur daran, dass sie jetzt wenigstens wieder beieinander sind, nach mehr als zwanzig Jahren.  

Und daran, dass wenn meine Grosseltern einmal einen Blick nach unten werfen würden – dann vielleicht besser ohne Brille, nach all dem, was ich anstelle, und überhaupt, was alles in der Welt vorgeht.  

 

Am nächsten Morgen ging ich zu Fuss an den Strand, an dem ich schwimmen gelernt, schon zu viel Meersalz in den Magen abbekommen hatte und mehrmals auf Seeigel gestanden war, auch mit Schühchen. Heimtückische Tierchen, diese Igel. Jedoch ausgehöhlt und ohne Stacheln sehr schön. Während meiner Tierwiedergeburtsphase hatte ich mir immer gedacht, dass, als Seeigel wiedergeboren zu werden, mein Äquivalent zur kirchlichen Hölle und gleichzeitig auch das ultimative Karma wäre. Hässlich, hartnäckig und gehasst von allen. Du trittst da gerade auf die gemeinsten und furchtbarsten Menschen, die es je gab! Und am Schluss tut es nur dir weh, wenn du dir so einen Stachel ziehst.  

Ich schaute weg von den Igeln aufs Wasser und wie mechanisch entledigte ich mich meiner Kleider. Ich bemerkte Nass an den Füssen und plötzlich war ich knöcheltief drin und musste auf die Scheissseeigel achten. Dem schwarzen Meer von Seeigeln ist nur schwer zu entkommen.  

Ich spürte die Kälte nicht mehr, meine Haut war taub. Ich stürzte ins Wasser hinein, teils weil ich es wollte und teils weil ich vom Felsen abrutschte. Ich schloss die Augen und sah wellenartiges Licht.  

Das Meer spülte allen Dreck und jedes Gefühl aus meinem Körper, und doch sog ich alles wieder auf – wie ein menschlicher Schwamm. Meine Poren waren voller Wasser und Leben und blau. Das Meer summte, mit den Fischen funkelnd, die Angst vor Quallen allgegenwärtig.   

Ich weinte unter Wasser. Salz mischte sich mit Salz und Gedanken mit Geschichte, endloser Geschichte. Um mich herum Stille, manchmal unterbrochen von einem eigenartigen Knistern. Es war zu früh, es war zu kalt und ich war zu traurig. Keine gute Kombination.  

Also rappelte ich mich wieder auf, versuchte, nicht zu versinken in diese grausame Gegenwart, in diesen Strudel meiner Selbst, mit einer Playlist meiner Gefühle in der Endlosschleife im Hinterkopf laufend, tauchte auf, sah klar blauen Himmel über mir. Unendlichen Himmel. Und verlor mich darin. «Kako si. Wie geht es dir, Baka?» – 

 «Dobro», antwortete sie. «Geh nicht unter.»  

 

Und ich ging nicht unter.


Sarah Stüssi war Schülerin der Klasse 6d und hat in diesem Sommer die Maturitätsprüfungen bestanden. Die Geschichte «Stirb schnell» hat sie im Rahmen eines Erzählbandes für ihre Maturitätsarbeit verfasst und an der Erzählsoirée 2024 vorgelesen.

Illustration: Emanuel Giglberger (1i SJ 23/24)

Illustration: Daniel Bayevsky / Valentina Nina Alder (1i SJ 23/24)