GESPRÄCH

Regieren in der Pandemie

 

Mit Silvia Steiner sprachen Maria Schmid und Robert Dätwyler

 

Silvia Steiner ist Bildungsdirektorin und Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Während der 1. und 2. Coronawelle war sie ausserdem Regierungspräsidentin des Kantons Zürich. Sie war dadurch sozusagen die oberste Corona-Bekämpferin des Kantons  und stand immer wieder in direktem Kontakt mit Bundesbern. Am 9. Juli 2021 trafen wir sie am LG zu einem Interview, um über ihre Arbeit während der Pandemie zu sprechen.

 

Frau Steiner wie hat sich Ihre Arbeit durch die Pandemie verändert?

Wie bei vielen anderen Menschen hat Corona mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sowohl mein Privat- als auch mein Arbeitsleben. Eine der grössten Veränderungen war, dass praktisch alle repräsentativen Anlässe weggefallen sind. Dennoch sind meine Arbeitszeit und meine Arbeitsbelastung nicht gesunken, sondern eher gestiegen. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich gar nicht mehr normal arbeiten konnte, sondern nur noch dafür sorgte, dass andere Leute arbeiten konnten.

Wie war für Sie der Umstieg auf die während der Pandemie vorherrschende digitale Kommunikation?

Für mich verlief dieser Umstieg problemlos. Zuerst hat unsere IT die Infrastruktur ausgebaut. Dies hat zunächst sehr schnell und gut funktioniert.
Es gab dann für mich aber ganz neue Herausforderungen. Zum Beispiel hatte ich zwischen diesen - neuerdings digitalen Sitzungen - keine Pausen mehr, weil ich das Zimmer nicht mehr wechseln musste. Das war anspruchsvoll, weil man so nie kurz Zeit hatte sich zu bewegen, etwas zu trinken oder die nächste Sitzung vorzubereiten. Auch hat es mich zuerst etwas verwirrt, dass wir so viele verschiedene Videokonferenz-Programme benutzten. Als Regierungsrätin hatte ich aber auch immer mal wieder physische Sitzungen, gerade mit dem Kollegium. Mit allen nötigen Sicherheitsvorkehrungen natürlich.

Wenn sie gewusst hätten, was auf sie zukommt, hätten Sie Ihren Job lieber aufgegeben?

(schmunzelt) Nein. Ich wusste schon einigermassen, was auf mich zukommen wird. Ich hätte einfach nie gedacht, dass diese Krise so lange dauern wird. Sie wird uns weiter beschäftigen. Immer noch ist unklar, wie lange dieses Virus uns noch begleiten wird.

Was war die wichtigste Entscheidung, die Sie in Bezug auf die Pandemie getroffen haben?

Zuerst muss ich klarstellen, dass wir immer die Massnahmen des Bundesrats vollziehen mussten. Erst nach der Aufgabe des Lockdowns standen wir als Kanton wieder in der Verantwortung und mussten viele wichtige Entscheidungen treffen. Die Zürcher Regierung hat entschieden, einen liberalen Weg zu gehen. Wir haben die Menschen im Kanton Zürich immer als mündige Bürger behandelt und wollten nichts anordnen, was wir nicht kontrollieren und durchsetzen können. Es nützt nichts, etwas anzuordnen, das nicht eingehalten wird. Alle unsere Entscheidungen musste ich gegen aussen vertreten, auch wenn es mir nicht immer leicht fiel. Denn es waren zum Teil grundlegende Eingriffe in den Alltag der Zürcherinnen und Zürcher, das haben wir uns nicht leicht gemacht.

Was würden sie bei einer weiteren Pandemie anders machen?

Ich würde so lange wie möglich Schulschliessungen verhindern. Ich sage nicht, dass sie ein Fehler waren, aber mit guten Schutzkonzepten hätten sie wohl verhindert werden können. Ich interpretiere die Reaktionen der jungen Leute so, dass sie lieber Masken anziehen wollen, als nicht in die Schule gehen zu dürfen. Vielleicht haben die meisten dies aber genau wegen der Schulschliessung realisiert.

Sie haben viele Entscheidungen getroffen, die sehr einschneidend für viele Jugendliche waren. Hatten Sie persönlich Kontakt zu Jugendlichen, um ihnen vor solchen Entscheidungen den Puls zu fühlen?

Meine primären Ansprechpersonen waren die Rektorinnen und Rektoren. Da waren wir im konstanten Austausch. Die Rektoren wiederum standen in engem Kontakt mit den Lehrpersonen und den Jugendlichen. Gemeinsam hatten wir also eine sehr gute Entscheidungsgrundlage.

Wie hat so ein Gespräch mit den Rektoren ausgesehen?

Es hat natürlich online stattgefunden. Das Ziel dieser Sitzungen war es, Lösungen zu finden, in welchen die verschiedenen Gymnasien ihren Freiraum für individuelle Entscheidungen haben, aber trotzdem sollten die Lösungen einigermaßen einheitlich und übersichtlich sein.

Standen Sie auch in Kontakt mit den anderen Kantonen?

Ich bin Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz. Dort haben wir sehr oft die verschiedenen Massnahmen der Kantone miteinander verglichen. Ich finde es wichtig, dass die Kantone eigene Massnahmen durchsetzen, weil sie unterschiedlich stark von Corona betroffen sind und waren. Es hätte zum Beispiel keinen Sinn gemacht, wenn die Schulen in Appenzell hätten schliessen müssen, weil es im Tessin viele Fälle gab. Ausserdem sind die Schulsysteme in den Kantonen unterschiedlich. Wir in Zürich haben zum Beispiel alle Bildungsstufen von der Kita bis zur Universität. Deshalb war eine unserer grössten Schwierigkeiten, für alle Bildungsstufen einigermassen einheitliche Massnahmen zu finden, obwohl diese so verschieden sind.
Deshalb denke ich, dass es wichtig war, allen Kantonen ihre Entscheidungsfreiheit zu lassen, obwohl viele Leute das Bedürfnis nach einheitlichen Massnahmen hatten.

Sind Sie eher pessimistisch oder optimistisch in Bezug auf den weiteren Verlauf der Pandemie?

Obwohl ich mich als eine hoffnungslose Optimistin bezeichnen würde, bin ich im Zusammenhang mit dem Virus eher etwas pessimistisch. Momentan ist die Impfbereitschaft etwas zurückgegangen, aber die Mobilität der Menschen hat zugenommen. Das haben wir sehr gut an den EM-Fussballspielen gesehen. Ausserdem ist es noch unklar, wie sich die verschiedenen Mutanten des Virus weiterentwickeln werden. Hinzu kommt, dass bald wieder die kühlere Jahreszeit anfängt, die ja besonders berüchtigt für Atemwegserkrankungen ist.

Finden Sie die EM pandemietechnisch eine gute Idee?

Nein, aus dieser Perspektive nicht. Aber es ist auch wichtig, dass wir Schritt für Schritt wieder so etwas wie Normalität herstellen und versuchen, mit dem Virus zu leben.

Sie haben zuvor von einem leichten Pessimismus Ihrerseits gesprochen: Welche Auswirkungen hätte eine Verschlimmerung der Situation für die Schulen, wenn die meisten Schüler*innen noch nicht geimpft sind?

Das ist fast schon eine philosophische Frage. Ich hatte mit dem Bundesrat Korrespondenz über die Frage, ob wir an Schulen testen sollen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es gestützt auf die Verfassung  Sache der Kantone ist, dies zu entscheiden. Die Anordnung individueller Massnahmen ist zudem meist zweckmässiger. Wir haben ja gute Schutzkonzepte, das sehen Sie an Ihrer Schule: Wenn Sie sich treffen, tragen Sie eine Maske. Sie haben klare Regelungen, was die Klassenverbände angeht. Es gibt ein Contact-Tracing für die Schulen, es gibt, wenn nötig, Massentests. Alle diese Massnahmen sind Teil dieses massgeschneiderten Pakets, das man immer wieder anpasst.
Wenn wir sehen, dass die Infektionszahlen in den Schulen steigen, werden wir weitere Massnahmen in Betracht ziehen. Zum Beispiel mehr Maskentragen, Verringern der Schülerzahl in der Klasse, flächendeckendes Pooltesting.
Wir werten sehr genau Daten aus und ich stehe auch im konstanten Kontakt mit der Wissenschaft, die mir auch sagt, was zu erwarten ist. Epidemiologen arbeiten mit Modellen. Ich habe in der Bildungsplanung auch ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sehr gute Inputs geben. Ich denke mir also nicht allein im stillen Kämmerlein die nächsten Schritte aus, sondern schaue, dass das, was wir anordnen, breit abgestützt ist.

Sie haben gesagt, dass die Impfbereitschaft zurückgegangen ist. Warum, denken Sie, ist dem so?

Ich weiss es auch nicht. Ich vermute, dass es den Leuten jetzt im Sommer bei schönem Wetter einfach nicht so wichtig erscheint.
Ich kann verstehen, wenn jemand aus prinzipiellen Gründen nicht geimpft werden möchte. Man muss dann einfach die Konsequenz tragen, dass man weniger Kontakt hat, nicht mehr gewisse Anlässe besuchen kann und das Risiko einer Ansteckung in Kauf nimmt.
Aber mich interessiert vielmehr die Frage: Wie stehen denn Sie zur Impfung?

Robert: Ich finde die Impfung eine gute Idee, da die Wahrscheinlichkeit, ohne Impfung nach einer Ansteckung zu sterben deutlich höher ist, als eine todbringende Reaktion auf eine Impfung. Ausserdem ist für Ungeimpfte die Wahrscheinlichkeit hoch, angesteckt zu werden. Deshalb denke ich, dass es schlauer ist, die Impfung zu machen. In meinem Umfeld kenne ich niemanden, der prinzipiell gegen die Impfung ist.

Maria: Ich habe auch gar keine Angst vor der Impfung, ausser, dass ich den Stich der Nadel nicht sehr mag. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass etwas extrem Schlimmes passiert bei der Impfung. Auch ich kenne niemanden, der gegen die Impfung ist.
Ich finde, dass alles in Bezug auf die Impfung sehr gut überwacht wird.


Ich möchte Ihre Aussage bestärken, weil ich ja die Zulassungsverfahren für Medikamente kenne. In der Schweiz haben wir immer das Gefühl, es dauere zu lange. Aber Swissmedic, die Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte, arbeitet sehr sorgfältig.

Gibt es Entscheide von oben, welche Sie nicht nachvollziehen konnten?

Als Juristin bin ich der Meinung, dass das Regelwerk, welches man konstruiert, generell abstrakte Normen haben muss. Ich hätte es deshalb besser gefunden, wenn keine individuellen Lösungen in einem Gesetz oder in einer Verordnung festgehalten worden wären. Sie können sich vielleicht erinnern: Aufgrund von individuellen Regelungen gab es immer wieder seltsame ungleiche Behandlungen. Warum beispielsweise ein Tattoo-Studio vor den Schulen öffnen durfte, ist für mich schwer nachvollziehbar. Ich weiss auch nicht, warum man mit einer Bergbahn zum Skifahren darf, aber gleichzeitig golfen nicht erlaubt ist. Im Winter war zwar nicht Golf-Saison, aber auch bei anderen Sportarten - wie Tennis - gab es viele junge Sportler, die die Vorschriften nicht nachvollziehen konnten. Wegen dieser Ungleichheiten und Ungereimtheiten ist die angestrebte Balance meiner Meinung nach nicht immer gelungen. Ich hatte den Bundesrat einige Male darauf hingewiesen, doch generell abstraktere Regeln zu erlassen. Gerade bei  Abstandsregeln oder Maskenpflicht in Innenräumen ist das gut möglich.

Was halten Sie von den momentanen Massnahmen?

Es gibt ja vor allem noch eine Zahlenbeschränkung. Die ist in Ordnung. Und die Privatveranstalter müssen ihre Schutzkonzepte selbst definieren, was sie generell sehr gut machen. Das gibt den Leuten auch bis zu einem gewissen Grad die Verantwortung zurück. Von dieser Eigenverantwortung des Individuums lebt unsere Gesellschaft.

Gibt es Informationen, die bewusst anders dargestellt wurden, um ein Missverständnis oder sogar eine Panik in der Bevölkerung zu vermeiden?

Nein. Die klare Kommunikation war in dieser Krise eigentlich das Thema, das uns am meisten beschäftigte. Mir ist aufgefallen, dass in der Coronazeit alle Menschen sehr genau und auch sehr kritisch geschaut haben, was wir machen und was wir sagen. Jedes unserer Worte wurde auf die Goldwaage gelegt. Es war deshalb sehr wichtig, dass wir sehr klar  informiert haben, damit möglichst bei allen dieselbe Botschaft ankommt.

Was konnten Sie an Gutem von der Pandemie mitnehmen?

Ich finde es grossartig, wie unsere jungen Menschen diese Zeit gemeistert haben. Sie haben das sehr gut gemacht. Und ich spüre auch, dass die jungen Menschen die Schule wieder mehr schätzen.
Wirklich ein ganz schöner Tag war jener, an dem die obligatorischen Schulen wieder geöffnet wurden. Ich wohne ja neben einem Schulhaus, und sah, dass die Lehrerinnen und Lehrer Ballone aufgehängt und «Herzlich Willkommen» hingeschrieben hatten. Alle freuten sich darüber, dass die Kinder wieder kommen und die Schule wieder stattfand. Das hat mich wirklich sehr gefreut.

 


Maria Schmid und Robert Dätwyler besuchen am LG die Klasse 4d.