Essay

Reflexionen

von Ursula Alder

«Wie sieht die Welt hinter dem Spiegel aus?», fragt sich Alice im Roman Through the Looking-Glass (1871), welcher auf Alice’s Adventures in Wonderland (1865) folgte. Ihre Neugierde steht am Anfang ihrer Abenteuer im zweiten Buch des Mathematikprofessors und Schriftstellers Lewis Carroll, in welchem sie nicht durch ein Loch im Garten fällt, sondern durch einen Spiegel im Wohnzimmer geht. 

Die Geschichte der Kinderbuchfigur Alice ist zwar fiktiv, doch gibt es eine wichtige Parallele zwischen ihr und unseren Schüler:innen. Alice hat nämlich etwas Entscheidendes, das alle Gymnasiast:innen mitbringen und auch mitbringen müssen: Neugierde. Sie gibt sich nicht mit dem Spiegelbild in ihrem Wohnzimmer zufrieden, sondern möchte herausfinden, was sich dahinter verbirgt. Wundersamerweise kann sie durch den Spiegel hindurch in eine andere Welt eintreten, wo sie einiges erlebt und lernt. Als Erstes entdeckt sie die Kaminuhr, die anstatt eines Ziffernblatts (clock face) ein Gesicht (face) zeigt und dann findet sie ein Buch, welches in einer unverständlichen Sprache geschrieben ist. Alice ist nicht nur neugierig, sondern auch intelligent, weshalb es nicht lange dauert, bis sie merkt, dass es in Spiegelschrift geschrieben ist und sie es mit Hilfe eines Spiegels lesen kann. Der clevere Autor und Mathematikprofessor lässt Alice allerlei spannende und verblüffende Entdeckungen machen, so beispielsweise, dass das Wort evil in der Spiegelwelt seine Bedrohung verliert und zum Wort live wird. 

Dieses kreative Spiel mit Sprache und Spiegelbildern ist kein Zufall – Spiegel und ihre Reflexionen sind in der Literatur und Kunst seit jeher ein faszinierendes Motiv. In Ovids Metamorphosen lernen wir, dass eine selbstgefällige Betrachtung des Spiegelbildes tragisch enden kann. Der schöne Jüngling Narziss weist alle Avancen von Verehrerinnen und Verehrern zurück, und selbst die Nymphe Echo verschmäht er, da auch sie ihm nicht schön genug ist. In der Sagenwelt muss ein solches Verhalten bestraft werden – wer alle verschmäht, dem soll es nicht gegönnt sein, eine Partnerin oder einen Partner zu finden. Narziss verzweifelt beinahe und wird traurig, weil er folglich niemanden findet. Endlich entdeckt er auf der Oberfläche eines Teichs eine Person, die seiner Schönheit ebenbürtig ist. Er ist bezaubert und verliebt sich in sie – in sein Spiegelbild! Als ihm gewahr wird, dass er sein Ideal nie wird erreichen können, stirbt er an seiner unerfüllten Liebe.  

Dieser «Narzissmus», die übertriebene Selbstliebe, wird auch im Märchen Schneewittchen der Gebrüder Grimm bestraft. «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?», fragt die böse Stiefmutter, weil sie überzeugt ist, die Allerschönste zu sein. Wir wissen, dass auch ihre Geschichte kein gutes Ende nimmt. 

 

Doch der Spiegel ist nicht nur ein Symbol für Eitelkeit oder Selbsttäuschung. In der Literatur und Kunst kann er auch zu Selbstreflexion und Erkenntnis führen – so etwa in Pablo Picassos Mädchen vor dem Spiegel (1932). Dieses Bild zeigt eine junge Frau, die sich selbst im Spiegel anschaut. Als Betrachter:innen des Bildes sehen wir sowohl die junge Frau als auch ihr Spiegelbild, welches in kubistischer Manier nur ansatzweise ähnlich dargestellt wird. Nimmt sich die junge Frau selbst so wahr, wie wir sie sehen? Stimmen Selbst- und Fremdwahrnehmung überein? Beim genaueren Nachdenken verschwimmen die Grenzen zwischen diesen Wahrnehmungsebenen: Nicht nur die junge Frau steht ihrem Spiegelbild gegenüber, sondern auch wir als Betrachtende werden Teil des Reflexionsprozesses. Denn letztlich wird in diesem Bild nicht nur ihr Blick gespiegelt – sondern auch unserer. 

Der Spiegel als künstlerisches Motiv, aber auch als realer Gegenstand, hat insofern verschiedene Bedeutungen und Anwendungszwecke. Ganz im Sinne unserer Musterschülerin Alice sollten wir den Spiegel nicht nur als Reflexion des Bekannten sehen, sondern als Tor zu neuen Welten und ungeahnten Entdeckungen. So half das Spiegelteleskop bereits Leonardo da Vinci, den Sternenhimmel besser zu beobachten. Und auch das heutige Hubble-Teleskop, welches seit 1990 im All im Einsatz ist und uns zu verblüffenden Erkenntnissen über den Kosmos verholfen hat, basiert auf Spiegeln.  

Nicht nur das Universum erschliesst sich uns dank Spiegeltechnologien – auch unser eigener Körper konnte ab dem 19. Jahrhundert mit Hilfe von Spiegelungen (Endoskopie) erforscht werden. Ob Gelenkspiegelung, Magenspiegelung oder Lungenspiegelung, das ausgeklügelte Verfahren mit reflektierenden Spiegeln und einer Lichtquelle wurde in der Medizin angewendet, um innere Körperregionen zu untersuchen, ohne dass der Körper aufgeschnitten werden musste. Heutzutage werden dafür kleine Videokameras verwendet, der medizinische Begriff «Spiegelung» stammt jedoch vom ursprünglichen Spiegel- und Linsensystem. 

Spiegel ermöglichen uns also nicht nur faszinierende Einblicke in das Universum und den menschlichen Körper, sondern sie stehen auch sinnbildlich für Erkenntnisprozesse und neue Perspektiven. Dies bringt uns zurück zu Alice und ihrer Reise durch den Spiegel – ein Symbol für die Bereitschaft, vermeintliche Grenzen zu überschreiten und sich auf das Unbekannte einzulassen. Insofern ist der Spiegel eine passende Metapher für den gymnasialen Unterricht. Denn auch am Gymnasium möchten wir in die Tiefe der verschiedenen Wissensgebiete vordringen und im Idealfall Neues entdecken und schaffen.  

Darüber hinaus steht der Spiegel für den Lernprozess schlechthin: Beobachten und Nachahmen sind essenzielle Techniken in der individuellen Entwicklung des Menschen. So fokussieren wir in den ersten Lebensjahren sehr stark auf Eltern, Geschwister und Peers, an denen wir uns orientieren können. Wir beobachten ihre Bewegungen, Laute, Verhaltensweisen, später auch ihre Mode, Frisuren und Interessen. Wir spiegeln sie und testen, wie unsere Imitation des Beobachteten von der Aussenwelt rezipiert wird. 

Im Tierreich gilt das auch für Affen: Sie lernen, wie wir, indem sie ihre Vorbilder beobachten und nachahmen. Andere (intelligente) Tiere, die keine Eltern oder Geschwister als Vorbilder haben, sondern von Anfang an als Einzelgänger aufwachsen, entnehmen ihr ganzes Wissen über die Welt und ihre Umwelt ihrem genetischen Bauplan und den Erfahrungen, die sie in ihrem Leben machen. Die Tintenfische gehören in diese Kategorie. Soziales Lernen (Artgenossen beobachten, durchschauen, imitieren, eigene Schlüsse ziehen) gibt es für sie kaum, da sie Einzelgänger sind. Diese Art von Entwicklung bildet also eine Kontrastfolie zum menschlichen Lernen, das im Kern immer ein Gegenüber braucht. 

Unsere Alice wie auch unsere Gymnasiast:innen möchten mehr als nur «kopieren», sie möchten selber und eigenständig denken, etwas Neues erschaffen und Ungewohntes ausprobieren, also die Welt «hinter den Spiegeln» entdecken und kennenlernen. 

Es ist die Aufgabe des Gymnasiums, die jungen Menschen sinnbildlich vom Spiegel zum offenen Fenster zu begleiten.1 Während im Untergymnasium in vielen Fächern noch das Einüben von Grundfertigkeiten im Vordergrund steht und die Lehrperson als Orientierungsfigur wirkt, verändert sich diese Rolle und das Lernen spätestens ab der Mittelstufe. Je mehr die Schüler:innen das Rüstzeug für das eigenständige Lernen sowie das jeweilige Fachwissen erarbeitet haben, desto mehr werden sie mit Projekten gefördert, bei welchen Eigenständigkeit, Initiative und Kreativität gefordert sind. Die Lehrpersonen ermuntern die Schüler:innen, metaphorisch gesprochen, zum Fenster hinauszuschauen bzw. hinauszutreten und dort selber zu beobachten, zu experimentieren und zu handeln. Dieser Schritt ist ein grosser! Ein befreiender! Schnell aber kann die Freude und Freiheit «hinter den Spiegeln» in Verunsicherung umschlagen. Ist man auf dem richtigen Weg? Findet man Spannendes und Neues? Wie und wann können wir uns sicher sein, dass sich unser Aufwand lohnt?  

Solche Zweifel verfolgen uns bei eigenständigen Arbeiten immer wieder, gerade auch bei der Maturitätsarbeit, quasi der Krönung der gymnasialen Bildung im letzten Schuljahr. Die Maturitätsarbeit ist eine wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit und hat zum Ziel, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen bzw. etwas Neues zu schaffen. Die Wiederholung bereits existierender Erkenntnisse und Ergebnisse ist dabei lediglich die Ausgangslage für die eigene Arbeit. Diese setzt Neugierde, eigenständige Ideen, Versuche, Unerschrockenheit und Frustrationstoleranz voraus. 

 

Wie aufgezeigt, stellt Alice’ geistiger Vater, der Mathematikprofessor Lewis Carroll, seine Romanfigur eben nur vordergründig kindlich-unwissend dar. In Tat und Wahrheit ist die Titelheldin Alice die Verkörperung einer klugen Forscherin, die das scheinbar Unmögliche und Unlogische interessiert und die den Mut hat, nicht nur vor dem Spiegel zu stehen, sondern durch ihn hindurchzugehen und jenseits des Spiegels Neuland zu entdecken.  

Mein Ziel ist, dass wir es am Literargymnasium allen Schüler:innen ermöglichen, wie Alice den Spiegel mit Neugierde und gesundem Selbstbewusstsein zu durchbrechen, neue Welten zu erkunden und dabei vielleicht auf Wundersames zu stossen. 


Ursula Alder ist Rektorin des Literargymnasiums sowie Englischlehrerrin.
Illustration: John Tenniel