ESSAY

“WENN DER FREMDENHASS NICHT ENDET, WAS BEGINNT DANN HIER?“

 

von Yasmina Mark

 

Ich bin Teil des Problems. Teil der Gesellschaft, die schon seit mehreren Jahrhunderten rassistische Muster sorgfältig in ihr Leben integriert.  

Im Gegensatz zu den anderen bin ich Opfer des Problems.

Ich gehöre nicht zu denen, die von dieser Ungerechtigkeit profitieren.  

Eigentlich müsstest du mir danken, denn ich stelle sicher, dass du dich zu den Gewinnern zählen kannst.  

Aber hinter all den Diskriminierungen, sowohl den Bewussten als auch den Versteckten, bin ich trotzdem die Siegerin. Als schwarze Frau habe ich die Fähigkeit, dass ich das Problem sehe, weil ich am eigenen Leib die Konsequenzen davon zu spüren bekomme. Für mich ist dies ein Geschenk. Diese Fähigkeit ist bedeutender als jedes Privileg, das zum Weiss-Sein dazugehört. Jeder noch so grosse Vorteil bei der Jobsuche, bei der Kontrolle des Tickets im Tram oder bei der unendlich scheinenden Auswahl an hellen Abdeckcremes, die ganz sicher nicht für mich funktionieren, ist kleiner als mein Vorsprung.  

Ist dir jemals aufgefallen, dass es bei einer Kosmetiklinie meist nur drei dunkle Foundations gibt? Nein? Dachte ich mir schon, denn für meine Realität sind leider viele Leute blind.  

Versetz dich mal in meine Lage! Vor etwa einem Jahr fragte ich in einer Drogerie eine Frau des Personals um Hilfe, da ich nicht den richtigen Hautton für mich finden konnte. Die Frau ging mit mir zu den Regalen und wir probierten uns durch die verschiedenen Marken durch. Nach etwa einer Viertelstunde wurde sie langsam nervös und versuchte, mir schonend beizubringen, dass ich wahrscheinlich woanders nach einer Abdeckcreme suchen müsse. Ich verstand auf Anhieb, dass ihr die Situation unangenehm war und sie verkrampft das Wort «Hautfarbe» zu umgehen bestrebt war. Ich wollte aber nicht ohne eine Creme gehen, also rief sie eine andere Mitarbeiterin zur Unterstützung herbei. Dabei sprach sie in ein Funkgerät und sagte ungefähr Folgendes: «Martina, Martina? Kleiner Notfall im Stock 3, Regal 11.» Wenn es für mich nicht so erniedrigend gewesen wäre, könnte man fast darüber lachen. Das Ende der Geschichte ist, dass ich mit einer viel zu hellen Creme aus dem Laden ging und mir geraten wurde, besser in eine «Spezialdrogerie» zu gehen.  

Zurück zu meinem Vorsprung: Wie du siehst, verfüge ich über das Wissen, wie es ist, nicht akzeptiert zu sein, und bin unausweichlich darauf getrimmt worden, dass ich Ungerechtigkeiten aufspüren kann. Mit der Zeit habe ich also ein Feingefühl entwickelt, wo sich unser fremdenfeindliches System überall durchsetzt. Einfach gesagt, wenn du weiss und damit nicht betroffen bist, wirst du logischerweise niemals wissen, wie es ist, wenn man von klein auf als anders angesehen wird. Du aber hast eine Wahl. Die Wahl, ob du deine Privilegien reflektieren willst und damit eine Auseinandersetzung mit der Realität einleitest oder ob du durch dein Leben gehst, ohne dich ein einziges Mal genauer umzuschauen, mit welchen Voraussetzungen deine Mitmenschen den Alltag bewältigen müssen. Wenn ich genauer über dies nachdenke, behaupte ich, ist dies dein grösster Vorteil ist.

Du hast den Text noch nicht auf die Seite gelegt. Wieso beschäftigt dich das Thema Fremdenhass? Du befindest dich doch in einer optimalen Situation, nicht? Hattest du ein schlechtes Gewissen, als du das erste Mal realisiert hast, dass du leichter als die anderen leben kannst? Erwartest du Applaus dafür, dass du dich mit dem Thema auseinandersetzt?

Vor ungefähr 500 Jahren sind Menschen, die nicht anders aussehen als ich, ihrer Heimat und Familie gewaltsam entrissen worden.  

Während man ständig um das eigene Leben fürchten musste und die schier zur Ohnmacht treibende Verzweiflung, die Familie nie wieder in die Arme schliessen zu können, einem plagte, war das einzige Greifbare auf den Sklavenschiffen der Gedanke an eine Gemeinschaft. Der geteilte Schmerz brachte die Menschen zusammen. Dieses Trauma wird von Generation zu Generation weitergegeben. Zwar in jeweils abgeschwächter Form, aber unsere Gesellschaft hat sich noch immer nicht von diesem immensen Verbrechen erholt. Was ist der Unterschied zwischen der Situation auf dem Schiff und der von heute? Klar, wir werden nicht mehr auf offener Strasse gelyncht wie vor hundert Jahren in den Südstaaten der USA oder ausgestellt in Schweizer Zoos, aber Rassismus begleitet uns ständig. Mir wird oft in den öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Erlaubnis in die Haare gefasst, weil die Leute sie als auffällig und exotisch empfinden. Ausserdem ist mir aufgefallen, dass alle Frisuren, die ich schon ausprobiert habe, als unprofessionell abgestempelt wurden. Dabei betrachte man Boris Johnson, dessen Haare anscheinend akzeptiert werden.   

Wenn also der Fremdenhass nicht endet, was beginnt dann hier? Rassismus gab es schon immer, er ist kontinuierlich. Er kommt in Phasen, manchmal heftiger und manchmal subtiler. Man kann also gar nicht von einem Ende des Rassismus der Sklavenzeit und einem Beginn eines modernen Rassismus sprechen, denn beide gehen ineinander über. Unser System basiert auf demselben wie vor 500 Jahren. Diskriminierung ist schon immer fester Bestandteil unserer Gesellschaft gewesen. Der institutionelle Rassismus das Racial-Profiling sind Überreste der Geschichte. Wenn ich aber das Argument höre, dass es in der «neutralen» Schweiz keinen Rassismus mehr gibt und dass dies ein Problem der USA ist, wirkt das wie eine Ohrfeige. Die Person ist sich meist gar nicht bewusst mit welcher Wucht mich dieser Satz trifft. Mir wird gesagt, ich sei eine starke Frau und ein unüberlegter Kommentar könne mich gar nicht aus der Bahn werfen. Ausser mir fällt aber keinem auf, dass diese Person soeben entschieden hat, ob es Rassismus noch gibt. Und falls er noch existiere, dass dieser selten wäre und für mich kein Problem sei.

Wie kann man folglich ein unschuldiges Kind in diese kaputte Welt setzen? Nehmen wir als Beispiel, dass ich irgendwann Mutter werde. Falls mein Kind nicht meine Hautfarbe erben würde, hätten wir unterschiedliche Voraussetzungen im Leben. Ich würde wollen, dass es für die richtigen Werte möglichst früh sensibilisiert wird. Es soll mehr wissen, als dass man das N-Wort nicht mehr sagt. Ich will nicht, dass mein Kind zu einer erwachsenen Person heranreift, die ihre Tasche näher zu sich zieht, wenn sich ein schwarzer Mann neben sie setzt. Ich will sicherstellen, dass mein Kind nicht zu lange zu einer Frau, die einen Afro trägt, hinüberstarrt, egal wie schön dieser ist. Ich will, dass es Ungerechtigkeiten erkennen kann. Ich will nicht noch einen Menschen in die Welt setzen, der nichts gegen unseren systematischen Rassismus unternimmt, geschweige denn, ihn wahrnimmt und damit einfach reproduziert.  

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wohl wäre, wenn ich ein Anruf aus der Schule meines Kindes bekäme, der mir mitteilt, mein Kind habe einen anderen Mitschüler rassistisch beleidigt. Es würde die Hautfarbe seines Mitschülers als Bedrohung sehen und mit Worten versuchen, eine ebenbürtige Waffe zu gebrauchen. Obwohl es den Streit dominieren würde, wüsste es innerlich, dass es die schwächere Person sei. Durch die Tatsache, dass es einen Menschen aufgrund seines Andersseins ausschliesst, würde es auch automatisch mich ausschliessen, da ich mich im Grunde von seinem Mitschüler nicht unterscheiden würde. Jeder Angriff wäre demnach ein indirekter Angriff gegen mich. Seine Taten werden bestimmen, ob ich auch in der eigenen Familie als Aussenseiterin gesehen werde. Ich werde mein Bestes geben, meine Nachkommen auf diese Welt da draussen vorzubereiten und zu sensibilisieren.  

Ich hoffe, ich bin nicht die Einzige.

 


Yasmina Mark ist Maturandin am LG.
Bild: David Diehl