Bericht
Pillen statt Kräuter
Eine kurze Geschichte der Nahrungsergänzungsmittel
Bereits in der Antike existierten Nahrungsergänzungsmittel in Form von Elixieren und Suppen. Aber anders als früher findet man heutzutage in nahezu jedem Supermarkt Pillen oder Tabletten, die Magnesium, Vitamin C und Vitamin D enthalten. Die Nahrungsergänzungsmittel sind so populär wie nie zuvor. Was früher aus natürlichen Zutaten aufwendig zubereitet wurde, ist heute als Tablette schnell und einfach konsumierbar.
Doch wie kam es zu diesem Wandel? Wie wurde aus traditionellen, nährstoffreichen Suppen plötzlich moderne Pillen im Supermarktregal? Ein spannendes Beispiel liefert die Geschichte der Zitrone, die einst Leben auf hoher See rettete.
Zitronen als Wundergeschenk
Nach der Erfindung der Schiffe um 7000 v. Chr. begann der Mensch, Reisen durch die ganze Welt zu unternehmen. Zunächst wurden Waren in der Nähe gehandelt. Nach und nach entdeckte man immer mehr Weltteile, wodurch der Handel von Waren über die Seewege immer wichtiger wurde. Besonders im 16. Jahrhundert blieben Handelsschiffe monatelang auf See und es breitete sich eine häufige, doch damals unerklärbare Krankheit aus: Skorbut.
Das Zahnfleisch der erkrankten Menschen schwoll an und wurde blutig, entstandene Wunden konnten sich nicht mehr schliessen, worauf sich Einblutungen unter der Haut häuften. Der Körper zerfiel gewissermassen von innen, die Erkrankten fühlten sich erschöpft und hatten Schmerzen in den Gelenken. Mit ein bisschen Pech konnte die Krankheit gar einen tödlichen Verlauf nehmen. Ein bekanntes Beispiel dafür, wie verbreitet Skorbut im Zeitalter der Entdecker war, ist das Schiff von Vasco da Gama. Es verstarben auf der Fahrt von Europa nach Indien rund zwei Drittel der 160 Mann starken Besatzung. Skorbut war damals die häufigste Todesursache unter Seefahrern.
James Lind, ein schottischer Arzt, behauptete im 18. Jahrhundert, dass Skorbut eine Folge von Säuremangel sei und führte Experimente durch, um seine Hypothese zu beweisen. Er teilte zwölf an Skorbut erkrankte Menschen in sechs Gruppen ein. Jede Gruppe bekam ein säurehaltiges Nahrungsmittel, wie Apfelessig oder Zitronenwasser. Nach nur sechs Tagen war die Gruppe, bei der der Zitronensaft zugeteilt wurde, vollständig genesen. 1753 veröffentlichte Lind seine Erkenntnisse in einem wissenschaftlichen Bericht. In A Treatise of the Scurvy legte Lind die Ursachen wie auch mögliche Heilmethoden gegen den Skorbut dar. Leider erhielt die Publikation wenig Aufmerksamkeit, dennoch gilt er als Erster, der den Zusammenhang zwischen Zitrusfrüchten und Skorbut untersuchte.
Weitere wichtige Erkenntnisse im Zusammenhang mit der ominösen Erkrankung folgten erst wieder im Jahr 1912. Der polnische Biochemiker Casimir Funk vermutete, dass die Substanz, welche Skorbut bekämpfen konnte, einen ähnlichen Amino-Faktor besitze, und nannte sie «Antiskorbut-Vitamin».
Entdeckung der Vitamine
Noch im selben Jahr stellte er fest, dass eine Krankheit namens Beriberi, welche Nervenentzündungen und anschliessend eine Herzerweiterung auslöst, durch einen Mangel an Thiamin verursacht wird. Thiamin kommt in verschiedenen Lebensmitteln wie Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Fleisch oder Eiern vor. Funk kreierte in der Folge den Fachbegriff «Vitamin», wobei Vitamin aus den Fremdwörtern vita (lateinisch: Leben) und amin (eine Abkürzung für Aminosäure) besteht und benannte Thiamin «Vitamin B1». Vitamine wurden von Funk als lebenswichtige Stoffe definiert, die der Körper selbst nicht oder nur ungenügend produzieren kann. Man kann nur durch das Konsumieren von Lebensmitteln bestimmte Vitamine erhalten. Nach und nach entdeckten Wissenschaftler weitere Stoffe, die in die Kategorie der Vitamine fallen. Beispiele sind Vitamin D, B3 und A.
Ab 1920 konnten Wissenschaftler schon die bekanntesten Vitamine aus bestimmten Nahrungsmitteln konzentrieren und rein herstellen, beispielsweise Vitamin A, Vitamin B1 oder das Antiskorbut-Vitamin, heute besser bekannt ist als Vitamin C. Letzteres stellte der Biologe Sylvester Zilva im Jahre 1925 in reiner Pulverform her, indem er die Substanz aus dem restlichen Zitronensaft isolierte. Später konnte man Vitamin C auch aus der Nebenniere, Orangensaft und Weisskohl gewinnen.
Nahrungsergänzungsmittel während des Zweiten Weltkriegs
Das pulverförmige Vitamin C erlangte schnell sowohl gesundheitliche als auch militärische Bedeutung. In der Zeit des Deutschen Nationalsozialismus (1933–1945) legte die Regierung grossen Wert auf die neu entdeckten Vitamine. Bei sogenannten «Vitamin-Aktionen» verteilte die Regierung Vitamin C an Kinder, Soldaten, Schwangere und Schwerstarbeiter im Glauben, dass die verteilten Vitamine das Volk innerlich stärken können. Allein innerhalb eines Monats bestellte die Wehrmacht um die 1,5 Tonnen Vitamin C. Denn insbesondere die Soldaten an der Front wurden mit Vitamin-Bonbons, sogenannten «V-Drops», versorgt, die sie in ihrem Kampfgeist stärken sollten. Dabei wurden die meisten Vitamine aus der Schweiz importiert.
Der Aufstieg des Nahrungsergänzungsmittels
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs drohte im kriegsgebeutelten Europa erneut der Hunger. Die Menschen waren stärker auf Nahrungsergänzungsmittel angewiesen als je zuvor. Dabei achteten die Menschen immer mehr auf die Gesundheit und Ernährung. Der Markt der Nahrungsergänzungsmittel boomte und Wissenschaftler versuchten intensiv, neue Medikamente zu entwickeln bzw. die Wirkung vorhandener Medikamente zu verbessern. Durch die verbreitete Verwendung von Vitaminen konnte man Ernährungsdefizite vermeiden oder behandeln, besonders bei älteren Menschen, Schwangeren, Vegetarier:innen oder Veganer:innen. Vitamine boten viele Vorteile.
Unliebsame Nebenfolgen
Eine Überdosierung von Nahrungsergänzungsmitteln kann aber auch unangenehme oder gar tödliche Folgen haben. Das haben die Menschen direkt nach der Markteinführung von Vitaminen allerdings noch nicht gewusst.
Als erster dokumentierter Todesfall infolge einer Hypervitaminose A – also einer Überversorgung mit Vitamin A – gilt der Schweizer Polarforscher Xavier Mertz. Nachdem seine übrigen Vorräte aufgebraucht waren, verzehrte er geschlachtete Grönlandhunde, deren Leber besonders hohe Mengen an Vitamin A enthält.
Ironischerweise vergiftete sich Mertz ausgerechnet an einem Nahrungsmittel, auf das er während seiner Expedition in Grönland gestossen war. Vielleicht wäre er besser zu Hause geblieben.
Heute unterteilt man die Hypervitaminose A in einen akuten und einen chronischen Verlauf, wobei beide Verläufe gemeinsame Symptome aufweisen: Kopfschmerzen und einen erhöhten Hirndruck, in den seltensten Fällen verlaufen diese heute tödlich.
Trotz dieser gefährlichen Nebeneffekte sind Nahrungsergänzungsmittel eine wichtige und für bestimmte Menschengruppen lebensnotwendige Entdeckung. Falls James Lind heute noch leben würde, würde er sich sicherlich stolz auf die Schultern klopfen, denn er hat durch seine Untersuchungen Generationen von Matrosen vor Skorbut bewahrt, selbst ohne richtig zu wissen, was dahintersteckte.
Heutzutage weiss man dank jahrelanger Forschung, dass bei der Produktion von Kollagen Vitamin C beteiligt ist, wobei Kollagen ein wichtiges Protein unseres Körpers ist. Es stabilisiert das Bindegewebe, unsere Knochen und das Zahnfleisch – genau dies war es also, was bei den Erkrankten fehlte. Zusätzlich spielt Vitamin C eine grosse Rolle für das Immunsystem und bei der Antioxidation von Zellen. Die merkwürdige Krankheit Skorbut, welche den Menschen über viele Jahrhunderte plagte, konnte endlich erklärt und verhindert werden.
Jiefu Liu ist Schüler der Klasse 4i und Teil der Redaktion LGazette
