RETROSPEKTIVE

Persona

 

Von Margaretha Debrunner

 

Seit über einem Jahr gehört das Tragen von Gesichtsmasken zu unserem Alltag an der Schule. Die Erstklässler haben viele Mitglieder der Schulgemeinschaft wörtlich noch nie „von Angesicht“ gesehen. Zeitweise fand der Unterricht nicht einmal im selben Zimmer statt, wir begegneten uns gefiltert auf digitalen Kanälen, kämpften immer wieder mit deren Tücken und schalteten hin und her zwischen Bild und nur Ton.

Eine grosses Mass an Unmittelbarkeit haben wir aufgeben müssen. Wir sehen uns durch Masken oder auf Bildschirmen.
Aber ist unser Austausch wirklich so anders als vorher? Hat nicht Mittelbarkeit auch eine Qualität, die wir bewusster würdigen könnten?

In der Schule spiele ich eine Rolle, verkörpere die Person „Lehrerin“, biete Anregung und Unterhaltung und ermögliche im besten Fall Verstehen, Erkenntnisse, Wissen und Selbstreflexion.

Im antiken Theater trugen alle Schauspieler Masken, verkörperten Typen („der geizige alte Mann“, „der listige Sklave“, „das junge Mädchen“). Das lateinische Wort für Maske ist – persona.

Das überrascht vielleicht: In unserer Kultur ist die Maske oft die Verhüllung der Wahrheit  oder sogar ein Kontrast oder Widerspruch zum „Echten“  dahinter.

Ein kurzer Blick auf die mögliche Etymologie dieses Wortes hilft vielleicht weiter:

Versuchsweise könnte man das Wort persona mit dem Helden Perseus verbinden. Dieser besiegte mit Hilfe des Internets (geflügelte Schuhe von Hermes) und gelegentlichem Abschalten der Kamera (Unsichtbarkeitshelm von Hades) ein Monster, das alle, die ihm zu nahekamen, töten konnte (Medusa, deren Anblick zu Versteinerung führte). Er befreite auch Andromeda von den Fesseln zu vieler Teams-Meetings (dem Felsen, an den sie gefesselt war). Kein Wunder, war Perseus einer der beliebtesten Helden der griechischen Mythologie. Denkbar ist, dass über Theaterstücke mit ihm in der Hauptrolle, gespielt von einem Schauspieler mit Maske, das Wort persona zum allgemeinen Wort für Maske und später Person wurde.
Ein anderer Ansatz muss philologisch ein bisschen mogeln: Hier wird persona mit per-sonare verbunden, „durch etwas hindurch klingen“. Das würde gut passen, die Stimme des Schauspielers muss durch die Maske hindurch, ebenso unsere Stimmen durch Masken oder das Internet.  Nur ist das -o- in personare kurz, in persona lang.  Für unser Gedankenspiel wollen wir das entschuldigen, Theater und Unterricht durch die Maske, geschweige denn online, verzerrt die Stimme ohnehin bisweilen.

Cicero, in einem Text, der oft im Latein gelesen wird (De officiis 1,107 ff.) schreibt, dass alle Menschen von der Natur zwei personae bekommen haben: Die erste, die des Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen und die zweite, die eines Individuums. In beiden „Masken“ müssen wir dann für ein erfülltes Leben die Rolle angemessen spielen. Was das konkret heissen könnte, erörtert Cicero im Weiteren. Jeder Mensch könne seine Rolle als Individuum gestalten und es gebe eine Vielfalt an Wesen und Verhalten, von denen keines a priori zu verurteilen sei. Was uns verbindet, ist das Menschsein, unsere Humanität, die sich im Bemühen um gutes Leben manifestiert und gleichzeitig auch das Wechselspiel zwischen verschiedensten Einzelmasken, Individuen. Persona ist also hier nicht Maske im Gegensatz zur Realität, sondern quasi das Interface zwischen jedem von uns und seinem Umfeld, ein Bildschirm im tieferen Sinn des Wortes.
Nachdenken über die eigene Rolle im Leben ist nicht dasselbe wie „nur“ nachdenken über sich selber, es ist zutiefst sozial: Selbst Solorollen brauchen das Publikum und im Normalfall „interagieren“ wir miteinander.

Was bringt uns das Nachdenken über die Wortherkunft von persona/Maske und die Konnotationen des Begriffs in der antiken Philosophie? Reflektieren und Gedankenexperimente über Sprache und Kultur können Lebenshilfe sein und wie jedes Spiel und jede intellektuelle Disziplin braucht dies Übung, z.B. in der Schule. Dass persona „Maske“ heisst, lernen schon Erstklässler, für die vertiefte Lektüre von Cicero braucht es nochmals vier Jahre Latein.

Wie auch immer, die Maske/persona im antiken Theater und der antiken Philosophie  ist nicht ein Hindernis in der Kommunikation, im Gegenteil, durch die Wahl der geeigneten Maske vermittelt man den Zuschauern nützliche Informationen und wie ein Profi damals maskiert mit Bewegung komplexe Emotionen veranschaulichen konnte, ist Gegenstand spannender Forschungsarbeit.
Die soziologische Rollentheorie (z.B. Ralf Dahrendorf Homo sociologicus 1958) baut heute noch auf die antiken Ideen und ist wichtige Grundlage vieler psychotherapeutischer Ansätze. Ziel ist nicht, die Maske wegzureissen, sondern quasi eine tragen zu können, mit der man wohl ist.

Jede soziale Interaktion zwischen Personen ist mittelbar; wir zeigen immer eine Maske, aber das ist nicht per se unehrlich, sondern notwendiges Filtern: Unterricht ist ein gezieltes Gespräch, bei dem die Persönlichkeiten aller Beteiligten selbstverständlich mitwirken, aber die Essenz und Erkenntnis, die Fähigkeiten und das Wissen sind nicht unmittelbar. Die Gesichtsmasken und der Fernunterricht bieten Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden, und damit auch Chancen, mit Rollen zu spielen: wenn ich z.B. als ältere Frau gelegentlich die Rolle der technisch weniger Gewandten annehme, kann dies bei SchülerInnen durch den Rollentausch (sie erklären mir Dinge) unerwartete Lernfortschritte bewirken.

In der Schule entwickeln sich alle Persönlichkeiten weiter, nicht zuletzt durch das Einüben und Finden von ständig sich wandelnden Rollen – wir müssen die Hygienemasken ja auch immer wieder wechseln.

In diesem kurzen Text zur Herkunft eines lateinischen Worts habe ich auch versucht zu zeigen, dass ein Blick in die Antike sich fast immer lohnt: Durch den Vergleich der heutigen Welt und Sprache mit der Antike bekommt man einen mittelbaren Blick auf das eigene Leben, und bekommt die vielgepriesene gesunde Distanz und gleichzeitig ein tieferes Verbundensein; nicht durch die naive Verschmelzung, die die Unmittelbarkeit bewirkt, sondern durch das Wahrnehmen sowohl von Unterschieden als von Gemeinsamkeiten, durch Mittelbarkeit.

 

 


Dr. Margaretha Debrunner unterrichtet am Literargymnasium Latein, Griechisch, Informatik und ToK.