Essay

Märchenhafte Mahlzeiten

Jedes Kind kennt sie: Die Märchen. Sie sind ein einzigartiges Phänomen und prägen die Kindheit von vielen. Und das schon Jahrhunderte lang. 

Daran allein erkennt man schon, wie wichtig sie eigentlich sind. Ein Märchen hat typischerweise eine Moral. Alle Details und Handlungen spitzen sich auf genau diese Moral hin zu. Alles ist aufeinander abgestimmt. Über Hunderte von Jahren hat man die Geschichten angepasst und dem Geist der Zeit auf den Leib geschneidert: Jedes Detail wurde geschliffen, nichts ist unbedacht. Denn Märchen sind Kunstwerke, Zeugnisse der menschlichen Geschichte. 

Wenn man genauer hinschaut, so erkennt man, wovon Märchen eigentlich handeln: Man sieht die grössten Ängste, die schmerzlichsten Verluste und die kühnsten Hoffnungen der Menschen. Es sind zutiefst menschliche Themen: Themen, die den Menschen und die Gesellschaft ausmachen, die seinen Alltag prägen und die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigen. Ein solches Thema ist auch das Essen. Klingt banal, «Essen», nicht? Ist es aber nicht. Der Hungertod sass früheren Generationen ständig im Nacken, Hunger liess Menschen nicht zur Ruhe kommen und andauernd leiden. Fehlt es an Essen, wird die Macht der Nahrung gross, die Fantasien über das Essen werden laut und die Geschichten drehen sich um diesen einen Kern. Essen ist somit nicht nur eine Lebensnotwendigkeit, es ist auch ein Kulturgut, ein Luxus, eine Verführung, eine Belohnung, ein Wunsch. Das Material, aus dem Träume – und Märchen – gemacht sind. Aber Essen beziehungsweise Hunger ist vielschichtig. Das sieht man auch in den Märchen, in denen die schlechten wie auch guten Eigenschaften des Menschen beim Thema Essen zum Vorschein kommen. Die Vielfalt der menschlichen Eigenschaften ist gross und reicht von Barmherzigkeit bis zu Dekadenz und Selbstüberschätzung. 

Unternehmen wir eine Reise in die entlegensten Ecken, ganz weit weg, so weit, wie nur die kühnsten Träume reichen: ins Schlaraffenland.

«In diesem Lande fliessen die Bäche von Milch und Honig, gebratene Hühner fliegen einem ins Maul, wenn man es nur offen hat», so erzählt es Johann Andreas Schmeller im Jahr 1853 in seinem Buch «Altbayrischer Sprachschatz».

Als kleines Kind habe ich mir das Schlaraffenland oft ausgemalt, ein Luftschloss mit allen Beschreibungen gebaut, die man in Märchen finden konnte. Blumen, die eigentlich Lollis sind, ewige Entspannung. Am Anfang ist das bestimmt erstrebenswert und lohnt einen Abstecher. Doch mit der Zeit führt das alles nur zu Faulheit. Wenn man Hunger hat oder einem langweilig ist, einfach den Mund aufzumachen und schwuppdiwupp landet ein frisch gebratenes Hühnchen im Mund. Pure Dekadenz. Wenn man den ganzen Tag nichts tun muss, als zu schlafen und den Mund für fliegende Köstlichkeiten zu öffnen, verkleinert sich die Komfortzone sofort. Fürs Essen und Luxus arbeiten zu müssen, wird undenkbar. Die Faulheit wird zum Alltag. Das Kapitel, aus welchem das obige Zitat stammt, heisst tatsächlich «Das faule Volk im Schlaraffenland», eine ziemlich klare Wertung der Bewohner der benannten, komfortablen Destination. 

Oftmals wird in Märchen Kritik an der Gesellschaft geäussert: Während der König und Adel stundenlang Köstlichkeiten schlemmten, wurden in der Unterschicht schlimme Taten für ein Stückchen Brot verübt. Zum Beispiel wurden Kinder im Wald ausgesetzt, damit die Eltern die spärlichen Vorräte für sich selbst hatten. So erging es auch eines Tages dem Geschwisterpaar Hänsel und Gretel. 

Hunger und Verzweiflung treiben die beiden immer tiefer in den Wald hinein. Bis plötzlich ein kleines Häuschen vor ihnen steht. Eines aus Lebkuchen! 

«Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?» lautet das bekannte Zitat aus den «Kinder- und Hausmärchen» aus der Feder der Gebrüder Grimm (1812). 

Ein verlockendes Lebkuchenhaus und schon schnappt die Falle zu. Die Kinder bleiben am Häuschen stehen, naschen vom Lebkuchen. Doch das Ganze nimmt, wie wir alle wissen, zunächst eine unglückliche Wendung: Die Hexe erwischt die beiden, lockt sie unter falschen Versprechungen in ihr Haus und sperrt sie ein. Der Hunger treibt also die beiden Kinder dazu, der Versuchung nachzugeben, das lockende Essen blendet die Kinder, lässt sie ihren Anstand und ihre Furcht vor Fremdem vergessen. Hunger ist nichts, was wir uns aussuchen. Er ist einer unserer Urinstinkte. Animalisch. Man kann ihn aber auch bekämpfen, oder besser gesagt, stillen. Zum Beispiel mit dem Trost, dass jemand anderes keinen Hunger verspüren muss. So wir es uns im Märchen Sterntaler präsentiert. Das arme Mädchen gibt alles her, was es besitzt: ihre Kleidung, ihr letztes Stückchen Brot, alles. Bis es selbst fast nackt und völlig einsam dasteht. Das ist der Moment, in dem es auf himmlischem Weg belohnt wird. Das Kind hat seinem Grundbedürfnis, dem, was jeder tun würde, widerstanden, hat nicht an sich selbst gedacht und seine eigenen Bedürfnisse für andere zurückgenommen. Dafür wurde es wortwörtlich mit Gold (dem himmlischen Lohn – die zu Gold gewordenen Sternen) überschüttet. Eine unglaubliche Belohnung für unglaubliche Eigenschaften und unglaubliche Taten.

Gold als Belohnung kommt in zahlreichen Märchen vor. Es ist ein sogenanntes intertextuelles Motiv. So wird es auch im Märchen «Frau Holle» aufgegriffen, in dem das Mädchen Goldmarie ähnlich wie das Mädchen in «Die Sterntaler» am Schluss mit reinem Gold belohnt wird. Als Goldmarie nach einer arbeitsamen Zeit bei Frau Holle – das Mädchen putzte und kochte täglich und am berühmtesten ist wohl das Bild, wie es Frau Holles Kopfkissen so kräftig ausschüttelt, dass es in der Welt draussen schneit – durch das Tor zurück nach Hause laufen möchte, fällt ein Goldregen auf das Kind nieder (daher kommt auch der verheissungsvolle Name «Goldmarie»). Doch nicht nur Gold ist die Belohnung für das fleissige Wesen und die selbstlose Aufmerksamkeit, die das Mädchen der alten Frau schenkt. Auch reife Äpfel erntet es und stark ist auch das Bild des gebackenen Brotes, das Goldmarie aus dem Ofen zieht: «Ach, zieh mich heraus, zieh mich heraus, sonst verbrenne ich! Ich bin schon längst ausgebacken!» fleht das Brot das gute Mädchen an (Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 1812). Damit zeigt sich: Gute Nahrungsmittel haben einen sehr hohen Stellenwert und wer sorgsam damit umgeht, erntet Lob und Lohn. 

In einem anderen Märchen heisst es, «Tischlein, deck dich!», und das Essen erscheint im Überfluss. Der jüngste Sohn bekommt im Märchen «Tischlein, deck dich» als Lohn für seinen Fleiss von seinem Meister ein Zaubertischlein von unschätzbarem Wert: Essen, so viel man will, auf blossen Befehl hin: Was für ein Geschenk in einer Zeit der allgegenwärtigen Armut und des Hungers. Doch das Märchen endet bekanntlich schlecht für den Tischler: Er wird auf dem Nachhauseweg mit einem magischen Tisch im Gepäck (seinem Gesellenlohn) vom Wirt einer Gaststätte um sein Tischlein gebracht. Mitten in der Nacht tauscht der Wirt das Zaubertischlein gegen ein ganz gewöhnliches aus. Am nächsten Morgen ruft der Tischler «Tischlein deck dich», doch nichts passiert. Der Tagtraum zerfällt und die Gebrüder Grimm erinnern uns daran, dass Überfluss nicht im Geringsten erstrebenswert und manchmal weniger mehr ist. 

Das lehrt uns auch «Der süsse Brei». Hier geht es darum, zu zeigen, wie wichtig Kontrolle und Macht in den Händen der richtigen Person sind. «Töpfchen, koche!» und «Töpfchen, steh!» mögen nicht besonders machtvoll klingen, doch diese Worte haben es in sich: Das magische Töpfchen mit der wunderbaren Eigenschaft auf Befehl Brei zu kochen, stillt zuerst und unter Kontrolle eines tüchtigen Mädchens jedermanns Hunger. Als dann aber eines Tages das kleine Mädchen, dem das Töpfchen geschenkt wurde, im Wald ist, kommt es zum Desaster: Die Mutter, allein zu Hause, hat Hunger und kocht sich, wie schon Hunderte Male davor, einen Brei, keine grosse Sache, was soll denn schon dabei sein? Die Mutter dachte nicht darüber nach, dass sie womöglich nicht befugt war, dem Topf Befehle zu erteilen. Hierbei täuscht sie sich aber gewaltig. Das Töpfchen kocht und kocht. Doch der Mutter fällt das Zauberwort nicht ein, um es zu stoppen. Es kommt so weit, dass das ganze Dorf überflutet wird! Sie hat die Situation mit dem Töpfchen klar unterschätzt und sich selbst überschätzt, hat die Risiken nicht einkalkuliert und fahrlässig gehandelt, weil sie ungeduldig und gierig nach Essen war. 

Natürlich kommt am Ende doch noch alles gut: Das Mädchen kommt zurück, spricht die magischen Worte und der Topf gehorcht. Trotzdem lehrt uns dieses Märchen, was Macht in den falschen Händen ausrichten kann. Wie bedacht man mit Worten umgehen muss, weil Worte nämlich mächtiger sind, als man denkt.

Nach diesem kleinen Spaziergang durch die Märchenwelt sehen wir, wie tief verwurzelt kulturelles Wissen und Vorstellungen von Mangel, Überfluss und Moral in Volkserzählungen sind und wie eng verknüpft diese mit Essen sein können. Essen war schon immer ein vielseitiges Thema, an dem sich menschliche Eigenschaften wie Gier und Grosszügigkeit, Selbstlosigkeit und Versuchungen aufzeigen liessen.

Man kann im übertragenen Sinn Märchen sogar als eine Art Leuchtstift in der Geschichte vom einfachen Volk verstehen. Denn durch die mündlich überlieferten und im 19. Jahrhundert unter anderen von den Gebrüdern Grimm aufgeschriebenen Märchen wissen wir heute, um was es den Menschen damals wirklich ging. Das Leben dieser Menschen beruhte auf der Sorge, am nächsten Tag nichts zu essen zu haben, familiären Verlusten und manchmal auch auf unerreichbaren Träumen. Diese Sorgen und Träume wurden eben deshalb, weil sie so relevant waren, in Märchen erzählt.

Heute haben Kinder- und Hausmärchen an Wichtigkeit und erzieherischer Bedeutung verloren. Jetzt gibt es IPads, Handys und andere aufregende Spielzeuge. Aber ist das gut so? Klar, manche Abschnitte in Märchen sind nicht mehr zeitgemäss. Dennoch sind die verschiedenen Aspekte, welche uns das Essen in Märchen liefern, zeitlos. Und vielleicht gerade heute in unserer Wegwerf- und Überflusskultur wieder bedeutend. Wir haben das Bewusstsein und die Wertschätzung fürs Essen verloren. Könnten uns Märchen da weiterhelfen? Wer weiss – vielleicht kann man sich ab und zu die Moral von «Sterntaler», «Frau Holle» oder dem «Süssen Brei» ins Bewusstsein rufen und einen Moment über Überfluss und unseren Umgang damit nachdenken.

 


Elisa Widmer ist Schülerin der Klasse 5a und Teil der Redaktion LGazette.