ESSAY

Liebe Grillen

ODER VON MÜNDIGKEIT UND SELBSTVERANTWORTUNG

 

Von Katja Brunner

 

Guten Tag sehr verehrte Schülerinnen und Schüler, guten Tag sehr verehrte Lehrende, guten Tag sehr verehrte alle, die wir hier heute sind! Und sofort erinnere ich mich an die Grillen, die man abends hier probenderweise in der Aula hören konnte: Also auch, hallo liebe Grillen! Wie Sie wissen, bin ich heute hier eingeladen, um über jene Dinge zu sprechen, von denen ich denke, dass ein junger Mensch mit Gymnasialabschluss sie heutzutage fürs Leben, den Arbeitsmarkt, die Liebe, die Schönheit, die Angst, die Selbstbestimmung usw., kurz, die eigene Mündigkeit und also die diffuse Orientierung am diffusen Faktor Glück brauchen könnte. Und erstmal eigne ich mich dafür so gar nicht, da ich den Weg der freischaffenden Autorin geschritten bin; das heisst, ich arbeite mit Sprache, ich arbeite mit den bestehenden Konflikten/Missständen/Missverhältnissen, die so ein gesamtgesellschaftliches Koexistieren mit sich bringt. Futter für meine Arbeit sind Konfliktfelder, Tabus, die ambivalenten Hintertüren der Sprache. Du kriegst keine Sonderbehandlung. Die sind dort was am Mauscheln, Kollaborateure sind fleissige Arbeiter*innen: Alles Begrifflichkeiten, die Holocaust, Kriegsverbrechen und Antisemitismus mit sich tragen – solche Dinge sind mir leider und zum Glück Futter für meine Arbeit, vor allem, da auf dem Theater das Schöne und Weite, das Utopische und Träumerische häufig doch gerne durch einen kühlen Blick ersetzt wird, einen kühnen und kühlen Blick, der verschärft auf dieses und jenes Ungleichgewicht blickt – und zeigt.  Ich bin also demnach nicht sonderlich geeignet, utopische Räume aufzutun, Tore und Türen in Unbekanntes feierlich aufzustossen, jenes Unbekannte mit positiven Perspektiven aufzuladen, einmal funky broadcasten nach 2030.  Und falls Sie eine Art Pessimismus oder gar Zynismus zwischen meinen hier heute gesprochenen Zeilen wahrzunehmen glauben, so verzeihen Sie mir jene bitte umstandslos und sofort. Zynismus ist beleidigter Idealismus, aber vom Beleidigtsein werde ich meinen Idealismus hoffentlich rehabilitieren können – im gemeinsamen Nachdenken mit ihnen allen. Beleidigungen sind so 2010 und wir wollen ja in die Zukunft schauen. Und die Möglichkeiten, die sie birgt. Parat hält.  Lösungen lauern überall, wie ein Freund von mir sagte, nachdem er eine positive HIV-Diagnose bekommen hatte. (Dieser Freund von mir – ein toller, gerechter, liebender Mensch – scheint zu einer positiven Aufladung der Zukunft fähig.) Eine Woche später sagte er, „man gewöhnt sich gegen alles“. (Dieser Satz schwang die letzten Monate immer wieder mit mir mit, denn wenn mir diese Pandemie bislang eine Erkenntnis gebracht hat, dann jene: Man gewöhnt sich gegen alles.) Ihm, diesem zitierfähigen Freund, möchte ich diese Feier des Künftigen hier widmen, weil Menschen wie er in Zeiten einer Pandemie nochmal ganz anders betroffen sind als die landläufig sich für gesund Haltenden.  Ausserdem – Randnotiz – wird er Deutschlehrer an einem Gymnasium, hat diese Woche just angefangen und ich bin wahnsinnig stolz auf ihn.  Item.  Und weil ich wie gesagt keine Zukunftsforscherin geworden bin, sondern eine Person der Schrift – fast eine anachronistische Tätigkeit ist das ja – probiere ich meinen Blick in die Zukunft anhand eines Blicks in die Gegenwart: Okay. Vor 10 Jahren und 2 Monaten habe ich mein Maturitätszeugnis bekommen. 10 Jahre und zwei Monate sind etwas weniger als ein Drittel meines Lebens.  
Seit da hat sich so einiges verändert:


EINE RÜCKSCHAU

Die U.S.A. – vormalige westliche Superdupermacht – steht vor der eventuellen Wiederwahl eines rassistischen, homophoben, sexistischen, ja hardcore misogynen, mit rechten Hooligans flirtenden, Verschwörungstheoretiker feiernden, massiv schlecht ins Alter gekommenen TV Sternchens. Brasilien, Ungarn, Polen und viele mehr haben sich für einen mehr oder weniger klaren Rechtsruck entschieden, entschieden worden lassen. In Weissrussland wird aktuell scharf auf Demonstrant*innen geschossen, und dennoch geniessen wir hier das Privileg, in einem demokratischen Land zu leben.  Dieses Glück haben viele Millionen Menschen auf diesem Planeten nicht. Und für diesen Wohlstand, der jünger ist als wir gerne denken, wurde hier gehungert, gestorben, Krieg geführt, vom Krieg der anderen profitiert, taktiert; wurden zuhauf menschliche Opfer gebracht. Und werden noch gebracht. Für unseren Wohlstand werden heute Arbeitskräfte fernab unserer leiblichen Präsenz nach wie vor glorios ausgebeutet.  Und für dieses profan gesagt Glück, hier in einer sicheren Dienstleistungsgesellschaft leben zu können – welches wir natürlich meistens gekonnt zu ignorieren wissen, da Alltägliches mit seinen Ärgern, Freuden, Ansprüchen und Widersprüchen einen permanent anspringt – für dieses Glück bauen wir auf die Ausbeutung der Bodenschätze ehemals kolonisierter Regionen, bauen wir auf Waffenexporte in Kriegsgebiete ehemals kolonisierter Regionen, und so weiter und so fort.  Wie gehen wir mit diesen Widersprüchen um? Und wie können sie handelnd oder mindestens denkend in ein mündiges Leben eingebunden werden? Welche Verantwortung trägt hier die Einzelne, das Kollektiv? Und nun – aufgrund globalisierter Lebensumstände – sitzen wir hier inmitten einer Pandemie, haben eine relativ dunkelschwarze Perspektive auf eine ausgewachsene Klimakrise, Ressourcenkriege, die daraus folgen werden – Deutschland zieht bereits Wasserreservoirs auf im grossen Stil, die Stadt Bern wird in 40 Jahren klimatisch so gelagert sein wie Mailand heute - grosse globale Fluchtbewegungen stehen an; bereits heute sind 97,5 Millionen Menschen auf der Flucht, laut UNHCR, MEHR ALS EIN PROZENT DER WELTBEVÖLKERUNG. Das ist ein Rekordwert! Mit Aufwärtstrend! Ok, Rechtspopulisten haben also Hochkonjunktur, es gibt ein verschärftes Klima von Xenophobie, Antisemitismus, Homophobie – und offensiver Frauenfeindlichkeit. Jene Haltungen sind in bestimmten Kreisen mehr als salonfähig, sondern ja direkt die Währung, in der der Mitgliederbeitrag zum Kreis gezahlt wird.  Zivile Milizen, Gewaltanwendung zum Erhalt des vermeintlichen Status quo stehen wieder zur Debatte. Prekäre Zeiten auf vielerlei Ebenen also. WIE DAMIT UMGEHEN?


DIGITALE REVOLUTION

Gleichzeitig befinden wir uns in den vielleicht Endzügen (?) der digitalen Revolution, welche zweifelsohne Einfluss auf jeden einzelnen Bereich unseres Lebens hat und hatte und haben wird. Neue Arbeitsflexibilität, Automatisierung, Stellenabbau, ja Robotisierung bestimmter Arbeitsbereiche, Stellenabbau als Konsequenz, erhöhte Selbstverwaltung, Stellenabbau, massive Veränderung der sozialen Strukturen: Virtuelle Begegnungsräume sind zentral geworden, soziale Medien garantieren mehr Freiheit, globale Kommunikationsstrukturen, gleichzeitig üb-en soziale Medien Druck auf Subjekte aus, sind überregionale Gleichmacherinnen und verursachen nachweislich Depressionen, soziale Ängste.  Einige wenige – vornehmlich weisse, heterosexuelle Dudes in Silicon Valley entscheiden also – das ist nicht mal überspitzt gesagt – darüber, wie wir uns und sich uns die Welt digital präsentiert.  Anhänger*innen von Verschwörungstheoretiker*innen gehen zu Tausenden auf die Strassen Berlins, Wiens, Zürichs, um gegen eine läppische Maske zu demonstrieren, so sagen es die einen.  
Um gegen eine zu ihren Lebzeiten noch ungekannte Einschränkung ihrer Freiheit zu demonstrieren, so sagen es die anderen. Um gegen die Einführung einer Informationsdiktatur auf die Strasse zu rennen, so sagen es wiederum andere. Da würde ich direkt reingrätschen und schreien wollen: Politische Bildung!  Quellenkritik! Quellen erkennen können! Fake news von real news unterscheiden können. Verstehen wie Algorithmen funktionieren! Darüber LERNEN UND SICH AUSTAUSCHEN, welche DREI, VIER FIRMEN DAS MONOPOL AUF SOZIALEN AUSTAUSCH IM NETZ HABEN Facebook, Twitter, Instagram. Welche Gegenmöglichkeiten gibt es? Wie alternativlos ist es? Wie schützt man die eigene Privatsphäre und die der anderen? Oder vielleicht auch: Was ist das Begrüssenswerte am gläsernen Menschen? Mehr Kontrolle = mehr Sicherheit? Welche Argumente stützen diese These? Kurzum: Das nennt sich DIGITALE MÜNDIGKEIT. Dezidiert frage ich mich, wie kann man digitale Mündigkeit hinkriegen?  Was sind denn die Implikationen der Digitalisierung: Man könnte diese Revolution gemeinsam beschreiben, analysieren; vergleichen mit anderen Revolutionen, die Europa geschahen, industrielle Revolution, soziohistorisch also!  Keinen Kulturpessimismus möchte ich hier an den Tag legen, nein, ich würde auch gerne die Potenziale reflektieren!  Was bedeutet eben diese monopolisierte Netzwelt? Überspitzt gesagt: 20 Typen im Silicon Valley entscheiden, wie das Fenster zur Welt für Milliarden Menschen ausschaut. Spezifisch: Massenindividualismus ist das kleinste Problem.  Politische Implikationen sind gigantisch. Lassen wir das mal stehen. Und ich würde mir wünschen, dass noch einmal eine ganz neue Kraft daraus entsteht, dass sich auch Menschen kritisch über Macht, Funktionsmechanismen und Effekte sozialer Medien äußern, die nicht nur intime Einblicke in deren Funktionieren haben, sondern die es einst selbst für eine gute Idee hielten, sie zu bauen. ALSO: Informatiker*innen einladen!  Genau so wie hands-on-knowledge: Wie prüfe ich Quellen im Netz? Wie steht es um Urheberrechte?  UND GANZ HANDS-ON: Programmieren lernen! Ich bin für Informatik! Angewandte Informatik, oh ja!  Diese digitale Welt beeinflussen zu können, in sie eingreifen zu können, sich und andere und DATEN schützen zu können. Wenn unsere Daten schon einfach als Kapital herumgereicht werden, dann bedeutet für mich digitale Mündigkeit Erziehung zu demokratiefähigen, mündigen Subjekten, die demokratiefreundlich miteinander im Diskurs stehen. Demokratie ist noch jung. An ihr muss gearbeitet werden; sie ist nicht ohne Einsatz zu haben.  

DIE KRAFT, DIE ALLES ZUSAMMENHÄLT, HEISST SIE WIRKLICH KAPITALISMUS?  

Und zumindest für mich in meiner Schulzeit fiel diese Frage etwas flach, schliesst hier organisch an:  Was bedeutet es, letztendlich, in einem kapitalistischen System zu leben? Wer sind die Verlierer*innen? Gibt es im Kapitalismus Chancengleichheit? Wenn ja, wie? Soll ich dazu Ayn Rand lesen? Oder soll ich „Bullshit Jobs“ von David Graeber lesen? Soll ich auf die leicht angesifften Leute in besetzten Häusern hören? Oder auf meine Wirtschaft studierende tendenziell an nicht endendes Wachstum glaubende Cousine hören? Wer profitiert hier von wem? Was macht Neoliberalismus, Raubtierkapitalismus, Hyperkapitalismus – nennen Sie es wie Sie wollen – mit der Art wie wir Beziehungen führen, leben? Mit der Art wie wir soziales Kapital z.B. in anderen wahrnehmen? Was beschert sie uns, diese Lebensweise? Und nochmal wie genau ist sie entstanden? Welche verschiedenen Erklärungsansätze ihres Entstehens gibt es? Warum radikalisiert sich Kapitalismus ständig und verschlingt, was er finden kann?  Ich würde mir ein Gefäss wünschen für künftige Schüler*innen, in welchem sie diese und ähnliche Fragen bildungsgestützt begleitet reflektieren können: Eine Art angewandte interdisziplinäre Philosophiekunde also! Nun komme ich zu einem weiteren Block an Fragen, deren Stellung und Bearbeitung ich für unvermeidlich halte. Diesen Teil überschreibe ich mit dem Titelchen:


Kommunikationskultur 

Leistungsdruck, Wettbewerbskultur, Vereinsamung: Die eigentliche Pandemie sind psychische Erkrankungen in Ersteweltgesellschaften. Von meiner Abschlussklasse weiss ich alleine von fünf Menschen, die medikamentöse Hilfe zur Stabilisierung ihrer Psyche brauchten –  in meiner Klasse von 28 Schüler*innen litt mindestens ein Drittel während der Gymnasialzeit an einer Essstörung. Für manche davon besteht diese bis heute.  Zwei Personen legten andere physisch sichtbare Formen der Selbstverletzung an den Tag.  Im Schnitt töten sich in der Schweiz täglich zwei bis drei Menschen durch Suizid (ohne jene, die Hilfe zum Freitod in Anspruch nehmen.) Das sind jährlich über 1000 Suizident*innen. Wovon im Jahr 2016 759 männliche und 257 weibliche waren. (Das sind übrigens in einem Jahr fast so viele wie bisher in der Schweiz an Sars-Covid-19 verstarben. Und trotzdem achten wir nicht stärker auf die psychische Verfassung unserer Gegenüber.) Das Bundesamt für Statistik beschreibt, dass „das Risiko, innerhalb der gesamten Lebensspanne zumindest einmal an einer affektiven Störung zu erkranken, beträgt rund 20%“. Ein Fünftel der von uns hier Anwesenden ist oder wird also statistisch betrachtet an einer affektiven Störung erkranken.  Wir sind uns wohl einig, dass es ein System sein muss, welches dies hervorbringt,  aber – und das möchte ich zur Debatte stellen – welche Sprache, welchen Umgang haben wir mit psychischen Krisen, Einbrüchen, Gebrechen? Vielleicht brauchen wir eine neue Sprache für das psychische Befinden. Über gebrochene Oberschenkelknochen darf mir nichts dir nichts gesprochen werden, über einen Oberschenkelknochenbruch in der Seele aber nicht. Ausser es handelt sich um ein Burnout; diese Form von Erschöpfungsdepression, aufgrund von Status und Arbeitsvolumen, ist in einer Leistungsgesellschaft anerkannt.  Dies scheint mir nicht mehr zeitgemäss, angesichts der Zahlen muss eine Art proaktive Selbstfürsorge thematisiert werden: Wie können wir achtsam miteinander sein? Wie können wir unsere Empathiefähigkeit als Bereicherung für ein gemeinsames Existieren nutzen? Wie lernen wir, Menschen und Zustände, die nicht in der Norm sind, wahrzunehmen? Ignorieren? Devaluieren? Ausstellen? Oder Wahrnehmen? Akzeptieren?


Und vor allem: WIE KÖNNEN WIR also in Bildungsinstitutionen PRÄVENTIV SEIN? WIE KÖNNEN WIR PRÄVENTIV SEIN?

Warum nicht Methoden der Selbstfürsorge aktiv lernen? Gewaltfreie Kommunikationskultur aktiv erlernen? Das gegenseitige positive Begegnen? Das Verweisen auf Ressourcen im Anderen? Grundlagen psychischer Gesundheit und Selbstfürsorge im schulischen Kontext vermitteln?  Niederschwellige Gesprächsangebote offen halten? Eine offene Gesprächskultur übers Befinden fördern? Diskriminierende Sprache erkennen und benennen? Ein Lernklima herstellen, indem man sich wohlfühlen kann?  Anzeichen psychischen Stresses frühzeitig erkennen lernen?  
Ich frage das auch, weil die Suizidrate unter Jugendlichen signifikant hochgeschnellt ist in den letzten zehn Jahren.  Wie dem auch sei.  Ich hoffe, Sie haben meinen Ausflug mit Ihnen durch digitale Mündigkeit, psychische Gesundheit/Mündigkeit und aktive politische Bildung nett gefunden. Gerne möchte ich noch vervollständigen, dass ich das Reflektieren der Umstände, die unsere Lebensform vorgeben, zentral für Mündigkeiten aller Art halte. Wie sind wir als Gesellschaft dahin gekommen, wo wir jetzt stehen? Punkto Selbstverantwortung würde ich mir formal ein interdisziplinäres Reflektorium der brennendsten Fragen wünschen. Vielleicht auf Kollektivebene der Schüler*innenschaft organisiert. Denn: Man lernt am besten, wo man selbst Interesse formuliert. Nun bin ich bereits am Ende meines Endes angekommen und möchte mich verabschieden: Liebe Lehrende, ich erkenne einige bekannte Gesichter, es tut mir leid, dass ich so TERROR war! Und liebe Schüler*innen: Jetzt schere ich schonmal ein wenig aus und tue altklug mit meinen noch nicht einmal 30 Jahren: Arbeiten Sie zusammen, geniessen Sie Ihre Schulzeit, die die letzte noch nicht auf Totaleffizienz ausgerichtete Lebenszeit ist und lernen Sie voneinander.  ABER VOR ALLEM: GENIESSEN SIE IHRE ADOLESZENZ!  
LÖSUNGEN LAUERN ÜBERALL.
Vielen Dank.

 

 


Katja Brunner ist Autorin und lebt in Berlin und Zürich. Sie ist ehemalige Schülerin des LG (Matura 2009).