ESSAY

LIEBE ERSTKLÄSSLER:INNEN

 

von Louis Rast

 

Zuallererst möchte ich dir sagen: „Willkommen am LG! Ich freue mich, dass du hier bist! Wir freuen uns, dass du hier bist!“ „Wir“, das sind wir, die bereits am LG sind. Die anderen, die Alten. Du bist vielen von uns sicher schon begegnet. Wir sehen uns auf den Fluren oder in der Mensa. Vielleicht haben wir dich seltsam angeschaut oder gar nicht beachtet. Das ist normal und keineswegs böse gemeint. Wir sind nun mal schon etwas länger an dieser Schule und – was Offenheit angeht – wahrscheinlich etwas abgehärtet. Für uns seid ihr exotische Menschenwesen. Ich bin nun ein Alter, seit vier Jahren am LG! Das hier ist mein Text über die Digitalisierung, über das Smartphone, aber eben auch ein Brief an dich, liebe:r Erstklässler:in.

Was hast du wohl gedacht, als du das Gebäude zum ersten Mal betreten hast: „Boah!“ oder „Huu…“. Ich war erstaunt, weil ich nicht gedacht hätte, in diesem Garten hier ein Haus zu finden, allemal eines von solcher Grösse. Aber – Now I’m here, wie Freddie Mercury so schön gesungen hat – das war’s, und bis heute habe ich jede kleinste Ritze in den Holzabdrücken dieser aus Beton gegossenen Wände liebgewonnen! Den Geruch der Bücher in der Mediothek oder das Rascheln des Laubes auf dem Olymp (so heisst der Hügel neben dem Haupteingang). Auch das Scharren des Teppichbodens, wenn ich mit den Turnschuhen darüberstreife. Und jedes Geklapper! Jedes Geklapper eines Schlüsselbundes, welches entweder von einer Lehrperson oder von einem Mitarbeiter/einer Mitarbeiterin des Hausdienstes stammen kann, weckt bei mir nostalgische Erinnerungen. Auch das süsse und doch tiefe Gebrüll der Baby-Drachen aus Clash Royale, wie man sie manchmal durch die Gänge hören kann. Vor allem – aber nicht nur – kommen sie aus dem Korridor der ersten Klassen.

Ja, es heisst, ihr seid oft am Handy. Was du, liebe:r Erstklässler:in, wohl dazu sagen würdest! Es wird angenommen, dass dies daran liegen könnte, dass die meisten Jugendlichen nun ihr erstes, richtiges, eigenes Handy bekommen haben. Hast du dich darüber gefreut? Elternratgeber, wie Fritz & Fränzi, sind sich einig, dass Eltern bzw. Personen, die die Vormundschaft über dich haben, klare Grenzen setzen sollten. Und die Eltern sollen ihrem Kind – für das sie natürlich nur das Beste wollen, mehr nicht – erst ab dem 12. Lebensjahr ein Smartphone geben.

Das Smartphone steht für die Digitalisierung schlechthin. Die Digitalisierung, was ist das? Die 4. technische Revolution? Das Verhängnis der Grafen von Askaban!?! Ich weiss es eigentlich auch nicht. Ich glaube, Digitalisierung ist Schönheit. Der Mensch bzw. das erfinderische Wesen in uns möchte gerne eine vollkommene Ästhetik schaffen. Das wollten wir schon immer. Denn Hunderte Generationen von Erfinderinnen und Erfindern und tausende Updates waren nötig, um die Computertechnik auf ihren jetzigen Stand zu bringen. Und Ästhetik, was ist das? Mal Google fragen: Laut Online-Duden ist Ästhetik unter anderem die „stilvolle Schöne“ oder der „Schönheitssinn“! Also Stilistik im Sinn von Gestaltung, kurz: Grafik. Das ganze Internet und jede App wurden für uns schön, oder eben ästhetisch gestaltet. Zum Verweilen soll es einladen. Wir sollten so viel Zeit wie möglich damit verbringen. Wir sollen uns freuen, wenn wir das Handy anschalten – und so glücklicher werden. Macht es uns glücklich? Vielleicht. Weil wir kurz einen Schwall Euphorie verspüren. Vielleicht auch nicht, denn die Wirkung, sie hält nicht zu lange. Und der Grundgedanke einer Erfindung war doch wohl, etwas zu erleichtern und bequemer zu machen. Was aber, wenn diese Bequemlichkeit plötzlich hinderlich sein kann?


Hübsche Apps

Der schöne, grasgrüne Spotify-Button auf einer schwarzen Fläche. Einzigartig, nicht? Wenn wir uns da aber die Verpackung von Oreo anschauen: blau-weiss, das ist dieselbe Idee! Oreo ist nur leider – halte dich fest – über achtzig Jahre älter als die Digitalisierung. Ich denke, dass diese Verwendung von zwei Farben zwei Gründe hat: Erstens soll es einen Wiedererkennungseffekt geben und zweitens soll dieser Wiedererkennungseffekt positiv, am besten ein richtiger Hype sein. Was ich damit sagen möchte, ist, dass diese schönen, ästhetischen Farben mich zum Konsum, zum Gebrauch anregen sollen. Sie wollen aus mir einen ihrer User:innen machen. Die Marke möchte sich hervorheben. Sie möchte herausragend sein und ich soll sie mögen, verehren. Sie wollen Liebe.

Okay, ist ja schön und gut, dieses Bedürfnis nach Liebe und Resonanz ist menschlich, aber muss das denn über materiellen Verbrauch geschehen. Suggeriert uns das nicht, dass sich Glückseligkeit mit der exzessiven Befriedigung materieller Bedürfnisse erreichen lässt. Mit den Bedürfnissen nach ständiger Stimulation! Werden wir nicht bald abhängig davon? Vermutlich ja. Die vermehrte Nutzung der digitalen Medien kann Depressionen oder soziale Ängste verstärken. Man verliert sich in der virtuellen Welt und möchte am liebsten für immer dortbleiben. Die Realität erscheint plötzlich ungenau und unberechenbar. Man muss allerdings auch bemerken, dass es in einem Game fast immer einen geregelten Ablauf gibt und man ständig mit farbigen, ploppenden Buttons belohnt wird. Und das erste Ziel der profitausgerichteten Wirtschaft ist wohl, soviel wie möglich zu verkaufen. Da kümmert sie sich wenig um unsere Psyche. Gut für die Umwelt ist das sicher mal nicht.

Wir jungen Menschen, wie wir uns in der Selbstfindung mit dem Smartphone von den anderen Generationen abgrenzen, könnten manipuliert werden. Wisst ihr, ich mag keine Veränderungen. Aber nach den von Cambridge Analytica ausgewerteten Facebook-Daten ist die Bevölkerung anscheinend bei Trumps Wahlkampf 2016 beeinflusst worden. Ausserdem, Computer per se sind Geräte, die von alten Männern erdacht und erbaut worden sind; sie programmierten auch die Algorithmen nach teilweise rassistischen Mustern. Computertechnik ist nicht vom Himmel gefallen! Die leicht bedienbaren und sehr ästhetischen Geräte aus den Laboren der damals süssen, jungen Start-Ups, die heute kapitalistische Grossunternehmen sind! Amazon, Google, auch sie sind auf einer euphorischen Digitalisierungswelle geritten, die vor der Jahrtausendwende Fahrt aufnahm. Okay, hab’ ein bisschen übertrieben, Raum für Innovationen findet sich auch in diesen Organisationen noch. Jeff Bezos beschäftigt sich jetzt zum Beispiel nicht mehr nur mit der Ausbeutung der Erde und des Internets! Ja, die Tech-Milliardäre scheinen genug Geld zu haben. Wann vergeht nun die Seele des guten Willens? Ab wann geht es ihnen nur noch um die Moneten? Die digitalen Unternehmen sind nicht allzu transparent. Ist der gute Wille vorbei, sobald die Umwelt darunter leidet? Sobald es Opfer gibt? Leidet denn die Umwelt wegen der Unternehmer:innen oder wegen der Konsument:innen?

Ist der gute Wille vorbei, wenn mit dem Lohn von billig arbeitenden, armen Menschen, die nach Gold und Tansanit und nach Coltan und Neodym graben, Kriege finanziert werden? Während die digitale Elite nach Mekka (Silicon Valley) pilgert und Gentechnik bald am Menschen angewandt wird? Wenn Nestlé sich Trinkwasserquellen gönnt und Zweifel plötzlich auch Spitzbuben vertreibt! „Was ist falsch an der Gattung Mensch!“, fragt sich eine Figur aus Ken Folletts Roman Winter der Welt, der vom Zweiten Weltkrieg handelt. Wenn ich übrigens lese, dass wir hier in der modernen und privilegierten Wohlstandsgesellschaft langsam in ein narzisstisches Zeitalter abgerutscht seien, denke ich: Die jetzige Entwicklung könnte doch einfach ein Ausdruck unseres Denkens, unserer kollektiven geistigen Entwicklung sein. Wir Menschen wollen doch nur die Komplexität unserer Seele, ja sogar die unseres Gehirns ausdrücken. Wieso wir existieren und weshalb wir dann wieder sterben, verstehen wir einfach nicht. Ich versteh das auch nicht, komme aber noch ganz kurz auf den Punkt des Jugendwahns der Digitalisierung zu sprechen. Ja, es ist das übliche! Photoshop, virtuelle Avatare und so! Heutzutage ist alles fresh, alles muss glänzen, sonst ist es für uns zu fade.

Wie auch immer, liebe Erstklässlerin, lieber Erstklässler, wir freuen uns, dass du hier bist. Wir leben hier in einer der lebensfreundlichsten Städte der Welt und das will was heissen. Ich versuche es auch zu geniessen! Geh ins Kino oder lass das sanfte Gebrüll der Baby-Drachen erneut erschallen. Und zwar so oft, wie möglich, bis du immun dagegen bist! Bis du die Augen aufmachst. Und die Welt zerbricht.

See you at Ragnarök.
 


Louis Rast ist Schüler der Klasse 5d.
Illustration: Alexander Dashin