Bericht
NUR JA HEISST JA
ÜBER ENTWICKLUNGEN IM SEXUALSTRAFRECHT
Von Emily Schnyder von Wartensee
Im Juni 2024 wird eine Reform des Sexualstrafrechts in der Schweiz in Kraft treten. Der Tatbestand der Vergewaltigung ist zwar weiterhin nur dann gegeben, wenn sich das Opfer verbal oder nonverbal wehrt, jedoch muss das Gericht in Zukunft auch das immer häufiger diskutierte Phänomen des sogenannten «Freezing», auch «rape freezing» genannt, in Betracht ziehen. Dies soll ebenfalls als eine Art der Ablehnung gewertet werden. Doch was ist denn dieses «Freezing» überhaupt?
Wenn man von «Freezing» im Zusammenhang mit Vergewaltigungen spricht, meint man damit eine Art Lähmung, die bei den Opfern eintritt und laut neuesten Forschungen eine Folge des natürlichen Schutzmechanismus ist, bei dem grosse Angst zu Bewegungs- und sogar Sprechunfähigkeit führen kann. Etwa 70 % der Frauen, die in Folge einer Vergewaltigung die Notaufnahme aufsuchen, sind von diesem «rape freezing» betroffen. Die Annahme, Opfer würden während Vergewaltigungen laut schreien und um sich schlagen, ist in den meisten Fällen völlig falsch. Vor Gericht führt dies bei Sexualstraftaten oft zur Pattsituation: Aussage gegen Aussage. Es ist für die Anwälte der Opfer schwer, Beweise zu finden, die endgültig für die Unschuld der Mandantin sprechen, sofern die Mandantin nicht starke äussere Verletzungen davongetragen hat. Und auch dann steht immer noch die Frage im Raum, ob nicht doch die Möglichkeit besteht, dass sie sich diese selbst zugefügt hat. In den meisten Fällen sieht das Gericht aber keinen Grund für diese Annahme. Wenn das vermeintliche Opfer den Täter jedoch kennt, wird dem Opfer von der Verteidigung oftmals vorgeworfen, aus Rache gehandelt zu haben. Ein Familienstreit, eine fiese Trennung, ein geschädigtes Ego. Das vermeintliche Opfer wird oft als hysterisch und gar bösartig dargestellt. Noch schlimmer ist es, wenn das vermeintliche Opfer angibt, in eben diesem «Freeze-Zustand» gewesen zu sein, denn für Aussenstehende ist es schwierig, eine solche Reaktion zu begreifen. Die Angst, nicht ernst genommen und gar in den Dreck gezogen zu werden, ist für viele Opfer der Grund, erst gar keine Anzeige zu stellen. Ein vermeintliches Opfer zu bleiben, scheint schlimmer zu sein, als so zu tun, als wäre man gar keines. Ein «Im-Zweifel-für-den-Angeklagten» zu hören, ist die Tortur und die finanziellen Ausgaben eines Prozesses einfach nicht wert.
Die Schweiz möchte nun diesen Opfern mit dem neuen Sexualstrafrecht diese Angst nehmen. Ein Sexualstrafrecht, das in die Zukunft weist und vielen Hoffnung gibt. Man hat immer mehr das Gefühl, in einer Welt zu leben, in der das Gute am Schluss siegt, in einer Welt, in der Gerechtigkeit keine Ausnahme mehr ist. Doch einige denken zurück an eine Zeit, in der der vermeintliche Rufmord einer Frau zum grössten Medienrummel im deutschsprachigen Raum geführt hat. Man denkt zurück und der Magen zieht sich etwas zusammen. Denn der Fall von damals zerstört das beständige Bild von Gut und Böse, von Recht und Unrecht und lässt nur eines zurück: ein grosses Fragezeichen.
Jörg Kachelmann stand anfangs der Zweitausender am Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte gerade seine eigene Talkshow erhalten, «Kachelmanns Spätausgabe», nachdem er als Wettermoderator für «das Erste» landesweite Beliebtheit erlangt hatte. Der gebürtige Schweizer überzeugte vor allem mit seiner lässigen Kleidung und lockeren Art. 2008 erhielt Kachelmann sogar den «Preis der Deutschen Zipfel» und warb für einige Unternehmen wie Danone und Isover. Er war also ein bekanntes und beliebtes Gesicht im deutschsprachigen Raum. Umso mehr überraschte es seine zahlreichen Zuschauer, als die Geliebte des Moderators sich mit einer schweren Anschuldigung an das Gericht wandte: Kachelmann habe sie vergewaltigt. Claudia Dinkel, seit dem Prozess bekannt als Claudia D., eine Radiomoderatorin, war 2010 schon zehn Jahre mit Wettermoderator Kachelmann zusammen gewesen. «Ich sah in ihm die Liebe meines Lebens», wird sie später sagen. Diese Liebe beruhte aber nicht auf Gegenseitigkeit. Für Kachelmann waren es nur ein gelegentliches Treffen und er pflegte auch Verhältnisse mit anderen Frauen. So ein Treffen sollte auch wieder am Abend des 8. Februars 2010 stattfinden. Die beiden verabredeten sich zuvor im Chat. Das Treffen würde um 23:00 in Claudia D.s Wohnung stattfinden. So viel ist klar, doch beim weiteren Geschehen gehen die Aussagen des Ex-Liebespaares auseinander.
Claudia D.s Version
Im Ermittlungsverfahren sagte Claudia D. aus, durch einen anonymen Brief, den sie am selben Tag um 17.00 im Briefkasten vorgefunden habe, von einer Affäre Kachelmanns erfahren zu haben. In dem Brief habe sie zwei Flugtickets nach Kanada mit den Namen Kachelmann und Isabella M. sowie eine Nachricht mit den Worten «er schläft mit ihr» vorgefunden. Sie habe Kachelmann damit konfrontiert, es sei zum Streit gekommen und sie habe schliesslich die Beziehung beendet. Kachelmann habe dies nicht akzeptiert und sei mit einem Tomatenmesser auf sie losgegangen. Er habe sie ins Schlafzimmer gezerrt und dort vergewaltigt. Während des gewaltsamen Akts hätte sie sich nach eigener Aussage wegen zu grosser Angst nicht wehren können. «Ich habe das Messer an meinem Hals gespürt», sagte die blonde Frau mit der grossen, dunklen Sonnenbrille im Prozess. Sie könne sich an alles erinnern, was an dem Abend geschehen sei, doch an die Vergewaltigung selbst habe sie nur verschwommene Erinnerungen. Etwas, das aber klar an die Tat erinnere, seien die Verletzungen, die ihr Kachelmann mit dem Tomatenmesser zugefügt habe. Claudia D.s Anschuldigen waren schwerwiegend. Hätte man ihr damals vollumfänglich recht gegeben, hätten Kachelmann bis zu 15 Jahre Freihheitsstrafe gedroht. Doch der Fernsehmoderator bestritt jegliche Form von Verbrechen.
Jörg Kachelmanns Version
Nach dem Austausch im Chat sei er wie abgemacht vor der Haustür Claudia D.s eingetroffen. Die Wohnungstür habe schon offen gestanden und Frau D. schon im Schlafzimmer auf ihn gewartet. Dort hätten sie einvernehmlich miteinander geschlafen und anschliessend im Wohnzimmer gemeinsam Zeit verbracht, ferngesehen und einen Weisswein getrunken, als das Gespräch auf den Brief gelenkt worden sei. Die Untreue, so berichtet er, bei seiner einzigen Aussage vor Gericht, habe er gestanden und das Ende der Beziehung akzeptiert. Die Nacht habe er in einem Hotel verbracht, bevor er am nächsten Morgen zu den Olympischen Winterspielen nach Vancouver geflogen sei. Dort moderierte er für «das Erste» das Wetter.
Die erste Anschuldigung
Am 9. Februar 2010 stand die aufgewühlte Claudia D. vor dem Haus ihrer Eltern und erzählte ihnen aufgelöst, Kachelmann habe sie vergewaltigt. Sogleich rief der aufgebrachte Vater die Polizei. Claudia D. schilderte das Geschehen und brach mit ihrer Mutter und dem bei der vermeintlichen Tat getragenen Slip zur Polizeistation auf. Während einer fast stündigen Vernehmung schilderte sie noch einmal das Geschehene. Daraufhin wurde sie von einer Ärztin sowie von einem Gerichtsmediziner untersucht, die beide leichte bis mittlere Verletzungen feststellen konnten. Derweil führte die Polizei in Frau D.s Wohnung eine Spurensicherung durch. Da für die Staatsanwaltschaft Verletzungen und Schilderungen übereinstimmten, beantragte sie einen Haftbefehl gegen Kachelmann.
Die Verhaftung
Nach dem Rückflug aus Vancouver wurde Kachelmann am Frankfurter Flughafen festgenommen. Er musste anschliessend 130 Tage in Untersuchungshaft verbringen, bevor ein deutsches Gericht im Juli 2010 den Haftbefehl aufhob.
Das Urteil
Am 31. Mai gab das Landgericht Mannheim den Freispruch Kachelmanns bekannt. Das Urteil war: Freispruch im Zweifel für den Angeklagten. Für die Presse ein sehr unbefriedigendes Urteil ohne Gewissheit. Es dauerte noch fünf Jahre, bis die vermeintliche Wahrheit endlich ans Licht kommen sollte.
«Kachelmann ist endgültig unschuldig», «Ex-Freundin Kachelmanns verurteilt!», so lauteten im Herbst 2016 die Schlagzeilen. Denn das Oberlandesgericht Frankfurt hatte Claudia D. wegen wahrheitswidriger Beschuldigung zu 7000 Euro verurteilt. Claudia D. habe die Geschichte nur erfunden, vielleicht aus Eifersucht, so spekulieren einige Stimmen. Einer von Kachelmanns Gutachtern hatte nämlich festgestellt, dass sich das vermeintliche Opfer seine Verletzung vermutlich selbst zugefügt hatte. Claudia D. war entsetzt. «Ich bin das Opfer eines Justizskandals», sagte sie öffentlich.
Rufmord oder Justizskandal?
Für viele Opfer von Sexualstraftaten ist dieses Urteil ein Schlag ins Gesicht. Sie glauben Claudia D., denn auch sie haben erlebt, dass man ihnen nicht glaubt und sie nicht ernst nimmt. Die Geschichte klingt für sie glaubwürdig und die Tatsache, dass der Gutachter, der die Selbstverletzung Frau D.s festgestellt hatte, von Kachelmann bezahlt worden war, löste Misstrauen aus. Andere Stimmen jedoch sprechen sich für Kachelmann aus und glauben, Claudia D. habe aufgrund eines verletzten Egos und dem Drang nach Aufmerksamkeit gehandelt. Die einseitige Liebe zu Kachelmann hätte sie stark getroffen und in den Wahnsinn getrieben. Die Anschuldigung sei lediglich blinde Rache gewesen.
Bis heute wird der Fall in der Öffentlichkeit diskutiert und es werden immer wieder neue Theorien aufgestellt. So unbefriedigend es ist, man wird wohl nie sicher wissen, was in jener Februarnacht tatsächlich geschah. Trotz eines rechtsgültigen Freispruchs. Wenn ich etwas von meiner Recherche mitnehme: Falsche Anschuldigungen bei Vergewaltigung kommen zwar vor, aber sie sind sehr, sehr selten. Auch wenn dieser Fall Zweifel auslöst, ist es wichtig zuzuhören, denn zu viele Opfer bleiben bis heute still. Aus genau diesem Grund finde ich das neue Sexualstrafrecht unglaublich wichtig und sinnvoll. Ich hoffe sehr, dass es mehr Opfern von sexueller Gewalt Mut macht und sie es schaffen, für sich einzustehen.
Emily Schnyder von Wartensee ist Schülerin der Klasse 4a und Teil der Redaktion LGazette.
Illustration: Leonela Hauser (1i SJ 23/24)