Essay

IMMER ALLES GE, ES GIT KEI GRENZE MEH!

FANKULTUR IN DER SÜDKURVE

Von Ludwig Hoefs

 

Es ist laut, sehr laut. Der FC Zürich vertraut auf uns. Noch lauter singen!  

 

Träg diä Farbe jede Tag, FC Züri überall. Uf de Huut und a de Wand, nimm de Schal i dini Hand! 

 

Wir wiederholen die Parolen immer wieder. Doch wer sind «wir» eigentlich? Eines ist klar: Wir sind sehr viele Menschen und alle ganz verschieden. Beginnend bei dreijährigen Zwillingen, die mit ihren Eltern den ersten Match erleben, bis zu Grosseltern mit 50er Jahrgang. Man findet Choleriker, Sanguiniker und, wenn man gut schaut, auch phlegmatisches und melancholisches Temperament. Und doch verbindet uns die Gemeinschaft. Man könnte glauben, wir seien eine Gesellschaft, ein Zusammenschluss mehrerer Personen zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks. Aber wir sind an diesem Punkt, bei dieser Kulisse, bei dieser Angelegenheit, hinter unseren Helden, bei diesen Klängen, und auch nur hier, hier sind wir die Südkurve. 

Ist nun die Südkurve eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft? Es heisst: In eine Gesellschaft wird man hineingeboren, in eine Gemeinschaft muss man eintreten. Somit würde die Südkurve viel besser auf eine Gemeinschaft zutreffen. Ferdinand Tönnies, ein deutscher Soziologe, Nationalökonom und Philosoph, definiert «Gemeinschaft» als Willen, sich als Teil eines Kollektivs zu sehen. Wobei der Wille, sich eines Kollektivs als Eigennutzes zu bedienen, zu einer Gesellschaft führt. Er glaubt, dass man sich in einer Gemeinschaft an den Zielen dieser Gruppe ausrichtet. In einer Gesellschaft jedoch betrachtet man andere als Sprungbrett für die Erfüllung eigener Ziele. Somit würde die Südkurve eher auf eine Gesellschaft zutreffen. Hat er recht? In der Südkurve kann man sich selbst auch «hocharbeiten», man erkennt Posten in der Menge. Der Dirigent der Kurve mit seinen Gehilfen, sie gucken das Spiel gar nicht. Es sind die, die den Match mit dem Rücken zur Kurve miterleben. Manch einer könnte sagen, sie verzichten für das Funktionieren der Fankurve. Doch sie erklimmen die Positionen sicher nicht, indem sie anderen schaden. Adolph von Knigge sagt dazu: «Lerne den Ton der Gesellschaft anzunehmen, in der du dich befindest.» Man muss erwähnen, dass die Südkurve wirklich sehr uniformiert ist. Jeder trägt dieselbe Jacke, dieselben Farben, die gleichen Gedanken.  

 

FC Züri zeig was d’chasch, dass d’jede Gägner abelasch. Wänn du alles gisch und wänn du würklich willsch, chasch ganz z‘oberscht stah!

 

Ich denke, es wird klar, dass im Fanblock wirklich der Ton angenommen wird beziehungsweise man sich an den Ton anpasst, der vorgegeben wird. Das vorherige Zitat von Knigge betont tatsächlich eher die Gesellschaft als die Gemeinschaft. Auch wenn die Kurve eine grosse Menge ist, stehen darin die einzelnen Individuen in Reih und Glied. Sie sehen alle gleich aus. Es ist ein blauer Block, der Furcht einflösst. Definitiv. 

In dieser Menge befinden sich Gruppierungen. Einige. Ein weiteres G-Wort. Wo soll ich dieses einordnen? Eine davon nennt sich, wie vorhin erwähnt, «Blauer Block». Es ist eine Gruppierung mit einer sehr auffälligen und einer der grössten Fahnen. Der «Blaue Block» befindet sich im rechten Drittel der Kurve, wenn man in das Stadion eintritt und hinabschaut. Ein blauer Teufel, der sich mit dem FCZ-Wappen verbindet, prangt auf dem selbst bemalten Stoff. Gruppierungen sind grösstenteils Zusammenschlüsse mehrerer Fans und Kollegen mit den gleichen Absichten.  

 

Was immer hüt passiert, mir bliibet hinter dier. Nüt isch so wie du, und keine so wie mier.

 

Es ist ein Status, den man erst mal erreichen muss, denn es ist nicht einfach, einer dieser Gruppen beizutreten. Eine weitere Gruppierung sind die «BOYS»; es ist wahrscheinlich die grösste Gruppierung mit den meisten Anhängern. Die «BOYS» sind sehr zentral eingemittet in der Kurve und der Capo ist ihnen zugehörig. Wer ist der Capo? Kurz gesagt ist der Capo die Hauptfigur der Südkurve; er ist dieser vorhin erwähnte Dirigent, der die ganze Menge unter Kontrolle hat und singen lässt. Dass er «Capo» genannt wird, ist eine Anspielung auf das Mafiaregime. Könnte man den Capo als kurvenstellvertretend beschreiben? Vielleicht sogar mehr? Die Person, welche diese Rolle übernimmt, ist ein Mensch mit extrem grosser Wirkungsstärke und Durchsetzungsvermögen; er besitzt Einfluss und geniesst Respekt. Er ist das Sprachrohr, das die Ereignisse und die Choreos via Mikrofon leitet. Wiederum könnte man die Gruppierungen damit definieren, dass sie die sind, die mehr als Fantum betreiben. Sie organisieren alles Drum und Dran, sie lassen die Kurve leben. Die Magie, die entsteht, wenn das Fahnenmeer Wellen schlägt, ist wunderschön. Es zieht einen förmlich in die Strömung der Schals, und ab und zu sieht man einen Leuchtturm leuchten, hell und heiss. Nach einem Goal werden es mehr. Genial.  

Genial ist jedoch nicht das einzige Adjektiv, welches die Südkurve beschreibt. Ich denke dabei auch an schockierend, skandalös und vielleicht sogar bedrohlich. Es existieren natürlich in einer dermassen grossen Fankurve, man denke dabei auch an die Mutenzer- und Ostkurve, oft «Ausrutscher», die die Fankultur in schlechtes Licht stellen. Wir schreiben den 6. 4. 24, der FC Zürich spielt gegen Servette, das hier ist nur ein Beispiel von vielen Vorfällen. Erst knapp vor Beginn des Matches treffen die Zürcher Auswärtsfans ein. Nur wenige Minuten bleiben sie im Block, dann verlässt die Südkurve das Stadion. Die Anhänger aus Genf tun es den Zürchern gleich, sie packen ihre Schals in die Tasche und gehen ins Freie. Weshalb? Diese Aktion sollte einen Protest gegen die unfaire Behandlung der Fans durch die Genfer Polizei beim Eintritt ins Stade de Genève sein. Was darauf folgt, ist kritisch. Einige Ultras stellen sich gegen die Polizei auf und setzen damit ein Zeichen der Rache. Es heisst, sie suchten Streit und richteten hohen Sachschaden an. Ob dieser Vorfall notwendig war, darüber kann man sich streiten. Die Lösung liegt sicher in der Mitte. «Sei friedlich. Sich nicht rächen, kann auch eine Rache sein.» Es passt erstaunlich gut, das Zitat von Danny Kaye. Die Äusserung enthält, wie ich glaube, sehr viel Wahrheit, weil es die Opposition der Rache und des Friedens auf eine Linie bringt. War es wirklich nötig, so den Polizisten und Polizistinnen die Aktion heimzuzahlen? Werden durch diese Handlungen nicht noch mehr Fragen und Unklarheiten aufgeworfen?  

 

Sie denket, mir sind abnormal. Sie denket, mir sind asozial. Mir hend nöd all Tasse im Schrank. Sie denket, mir sind eifach krank. Sie denket, mir sind eifach krank. 

 

Waren alle Zürcher einverstanden mit den Taten in Genf? Ich bezweifle es. Zwar verliessen alle Fans das Stadion gemeinsam. Aber das Darauffolgende? Wir bilden als Südkurve eine Einheit, aber nicht immer können alle dahinterstehen. «We are all water in different containers.» Das Zitat stammt von der Konzeptkünstlerin Yoko Ono und wird mit «Wir sind alle Wasser in verschiedenen Gefässen» übersetzt. Mit «Wasser» könnten die verschiedenen Personen und die Persönlichkeiten umschrieben werden. Die verschiedenen «Gefässe» mag ich mit den Umfeldern der unterschiedlichen Menschen erklären. Es trifft zu: Alle Leute in der Zürcher Südkurve haben ein eigenes, anderes Leben und verschiedene Persönlichkeiten, welche am Match aufeinandertreffen. Dabei gibt es Leute, die mehr ausprobieren, die Grenzen provokativer sprengen möchten. Ich bin der Meinung, dass Stellung bezogen werden muss, nur mitmachen und nicht selber zu denken, ist zu wenig. Was auch immer jemand behauptet, an einem kleinen Verbleib des eigenen Geistes soll festgehalten werden. 

 


Ludwig Hoefs ist Teil der Redaktion LGazette SJ 23/24, Schüler der Klasse 4c und leidenschaftlicher Fan des FC Zürich.

Foto: Ludwig Hoefs