Kurzgeschichte
Im hohen Gras standen wir
von Mia Clementi
Ich schlendere die Kapfstrasse entlang, werfe meinen Stimmzettel ein und gehe einkaufen, bevor ich nach Hause fahre. Mein Bullterrier hält gut mit mir Schritt.
Zürich. Kreis 7. Witikonerstrasse. Alter Wohnblock. Triste 2-Zimmer Wohnung. Renovation schon lange überfällig. Der Ort, wo meine Krisen ein Gesicht bekommen.
Durch die Türe eingetreten, löse ich den Hund nicht einmal von der Leine. Schrillend schleift der metallene Karabinerhaken hinter ihm her. Der abgenutzte Parkettboden knarrt bei jedem Schritt.
Mein Blick wandert ins Bad. Die durch das Drahtglasfenster einfallenden Sonnenstrahlen werden in schillernden Farben vom Badezimmerspiegel reflektiert. Ein Lichtstrahl fällt in mein linkes Auge und ich kneife es prompt zu. Von dem bunten Glimmern angezogen, begebe ich mich voller Bewunderung ins Badezimmer. Ich starre direkt in den Spiegel oberhalb des Waschbeckens. Die regenbogenfarbenen Reflexionen sind spurlos verschwunden.
Mein Gegenüber erscheint mir erschöpft. Er dreht den Kopf. Zuerst nach links, dann nach rechts.
Mein Spiegelbild rümpft die Nase. Fletscht die Zähne. Im Wohnzimmer winselt der Bullterrier.
Due ore, mi guardo allo specchio in bagno
Mentre evidenzio bene ogni mio sbaglio
Severo con me stesso e con nient'altro
Ich denke zurück an die Gespräche mit meiner Psychologin. Scheinheilig, zwecklos, etwas naiv. Das Geld für die letzten sechs Behandlungen schulde ich ihr noch. Ihre besserwisserischen Blicke, voreingenommenen Ansichten, kommunikationsbasierten Lösungsansätze.
Ich will den Spiegel einschlagen.
Werde ich den Erwartungen gerecht? Den Erwartungen, wie ein Mann sich verhalten sollte? Wie ich sein sollte? Bin ich der Ekmekverdiener der Familie?
Was hilft mir die Tatsache, was die unumstössliche Wahrheit?
Ich bin nichts von all dem.
Dede, stell dir vor, ich spreche jetzt besser Türkçe als du. Und ich habe es mir ganz allein beigebracht. Ich selbst habe das gemacht. Ich. Ich selbst. Ich. Ich. Ich. Ich habe alles allein gemacht. Ich habe mir die ganze Scheisse selbst beigebracht.
Jetzt bin ich ein in den Spiegel blickender Wellensittich, der in sich selbst ein Kamerad sieht.
Wie der blaue in deiner Wohnung in Istanbul. Anne hat ihn damals mit ausgestreckten Beinen auf dem Linoleumboden gefunden.
Was dieser Badezimmerspiegel schon alles gesehen hat.
Ich ziehe die Glock aus der Hosentasche. Unwissend, ob sie geladen ist. Ich ziele zwischen meine Augen. Siehst du das, Dede? Nazar boncuğu. Halte mich auf, Dede!
Jeden Tag gebe ich auf. Ich versuche mich aus dem Bett zu schälen, doch noch vor dem Morgengrauen ist der Tag bereits Geschichte.
Ich bin wütend, dass ich hier sein muss, während du im Salman Pastanesi6 sitzen kannst. In Gedanken zumindest.
Wie geht’s dir da oben?
Letzte Woche war dein vierter Todestag, Dede. Keine Sorge, ich war da. Ich habe dich besucht.
Ich dachte an meine Schulzeit. Damals versuchte ich meine Freunde zum Lachen zu bringen. Bei dir versuchte ich es gar nicht erst.
Jetzt erst merke ich, dass es mir damals wahrscheinlich einfach zu viel war.
Mir kommt meine Reise nach Sivas im letzten Sommer in den Sinn. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich meine Verwandten in den kurdischen Gebieten besuchte.
Ich fühlte eine tiefe, instinktive und verinnerlichte Schuld, wenn ich Kurden von meinem Traum erzählte, Arzt zu werden.
Jetzt denke ich darüber nach, wie unfair das war. Nicht für mich. Für sie.
Ich kann studieren, was ich will und jederzeit in die Schweiz zurückkehren.
Als ich Sivas verliess, blieben leere Blicke und lebhafte Szenerien in meinem Kopf zurück.
Sivas ist der Ort, an dem ich dich wiederfand, Lara. Jede deiner Bewegungen sah ich in einem Winkel der Stadt. Ich verfolgte deine tiefsten Sehnsüchte bis zu den rauen Meeresküsten am Stadtrand von Lima.
Und die breite Linie deines Nasenrückens fand ich in Rauch, Smog, schwerem Atmen und Keuchen, in den Fabriken, bei den Arbeitenden, den Strassenhändlern, die Überstunden machten.
Im immerwährenden Chaos fühlte ich mich dir näher als jemals zuvor.
Deine Stimme ist der sternenklare Himmel über mir, die sanfte Andenbrise und der Gesang von Vögeln, deren Farben ich bis heute nicht fassen kann.
Der volle Mond, die Hochländer, die tiefen Täler, ominösen Echos, drohenden Fluten, spontanen Regengüsse, das unverständliche Gemurmel, die scharfsinnigen Elegien.
Und der Gipfel des Berges.
Er sah mich an.
Ich schwöre es, er starrte mich direkt an!
Ich grüsse dich! Allgegenwärtige, atemberaubende, ewige Schönheit.
Deinen Gipfel will ich erreichen.
Ach, ich sehe es jetzt. Ich höre es jetzt. Du rufst nach mir.
Halte dich fest!
Es ist an der Zeit, dies loszulassen. Es ist an der Zeit, sie loszulassen.
Gehst du schon?
Es tut mir leid, Sivas, ich sehne mich nach mehr. Jetzt und für immer.
Meine Träume rufen. Ich bin dabei, sie zu verwirklichen.
Die Nacht ist schon wieder vorbei. Ich muss aufstehen.
Ich schlage den Badezimmerspiegel ein. Rohe Gewalt. Nicht mehr. Nicht weniger. Die dünne Haut über meinem Knöchel reisst durch den Aufprall auf, dabei bohren sich die Scherben in meine Haut. Blut läuft meinen Unterarm hinab, trocknet auf halbem Weg und lässt meine Haut erhärten. Die Blutspuren werde ich noch ein paar Tage mit mir herumtragen. Ich keuche. Der Fliesenboden ist mit glimmernden Scherben übersät. Mein Kopf schlägt auf dem Boden auf. In meinen Ohren dröhnt es. Alles scheint vor meinen Augen zu flimmern. An mehr erinnere ich mich nicht.
Dinamite esplode
Su tutti i ricordi che ho
Non importa se morirò
Im hohen Gras standen wir. Ich versuchte, mit dir Schritt zu halten. Bevor du deinen Verstand verloren hast. Und die Schlangenhaut, die wir fanden und Nonna nie zeigten. Die Reiskroketten. Der aufblasbare Pool. Rosa wie du und zu schmal, um uns alle zu fassen.
Meine Schwester und ich. Im Schwimmbecken. Glitzerndes Wasser umgibt uns.
Der kalte Trinkbrunnen. «Non sprecate troppa acqua. C’è poca quest’estate.»
August 2016, Cantù, Lombardia.
Die Luft war trocken und heiss. Aber im Schatten, unter dem Haselstrauch in deinem Garten, war es angenehm.
Die blutroten Wassermelonen und deine rauen Hände auf meinen Wangen. Der Malteser hechelte.
Weit, weit weg von zu Hause. Weite, einsame Felder.
Du hast uns einen Text über eine alte Wäscherei diktiert. Und meine Schwester und ich mit deinem alten Samsung aufgenommen. Wir hatten keine Ahnung, wovon du sprachst. Als mein Italienisch noch akzentfrei war. Und meine andere Muttersprache es noch nicht für immer getrübt hatte.
Die lucciola, die du uns gezeigt hast. Reglos lag sie auf dem Boden. Ganz allein.
Wir. Alle zusammen. Die ganze Familie. Zusammengekauert im wilden Gras.
Weit, weit weg von zu Hause konnte ich endlich verstehen, was Wurzeln wirklich sind.
Italien ist das Land, in dem ich die wahre Bedeutung des Wortes verstand.
P-A-T-R-I-A
Das mir niemand jemals wieder wegnehmen kann. Das ich bis zum Ende in mir tragen werde.
Bis auch ich meinen Verstand verliere.
Sivas? Lombardei? Einsame Felder?
Ich schluchze. Mein Kopf dröhnt. Tränen rinnen über meine Schläfen. Langsam öffne ich meine Lider. Bilder flimmern vor meinen Augen. Langsam komme ich wieder zu mir.
In meiner rechten Hand ist noch immer die Glock. Vor mir das Einschussloch in der Badezimmerwand. Unter mir der kalte Fliesenboden, Blutspritzer. Und überall um mich glimmernde Spiegelscherben.
Mia Clementi ist Schülerin der Klasse 6i und Teil der Redaktion LGazette SJ 24/25.
Foto: Mia Clementi