Gedicht
Ich und mein Spiegelwesen
von Vera Vuskovic
«Wer bin ich», fragte sie mich, sie sah mich an, ganz ernst.
Ich war erstaunt, als ich sah, als ich ihr ansah, dass sie es wirklich,
wirklich wissen wollte, wirklich, wirklich nicht wusste, aber wissen wollte,
wissen musste.
«Wer bin ich.»
Ich frage mich manchmal, was mich zu mir macht.
Ich schau in einen zersprungenen Spiegel, ich frage mich,
bin ich ganz, oder doch nur ein Stück, nur ein Bruchteil des Ganzen?
Ich sehe mich im Glas, doch ein Teil geht verloren,
bleibt unsichtbar,
weiss der Spiegel, wer ich bin, wer ich war?
Ich treffe seinen Blick, er starrt zurück, aus zwei anderen Augen,
oder doch denselben?
Bin ich allein, oder sind wir beide hier, miteinander verbunden,
verworren und verzweigt, aber doch getrennt?
Allein,
allein in einem Zimmer, mit nichts als einem Spiegel,
weniger einsam,
als von Menschen umgeben.
Heisst das, ich bin nicht allein, nicht wirklich,
nicht, mit dem Echo des Glases, mit meinem Echo, das ich bin?
Oder doch nicht?
Wir sind stumm.
Wir sind stumm, ich und mein Spiegelwesen.
Bin ich das, was ich sage, oder das, was ich zurückhalte,
das, was ich verschweige?
Was macht mich echter,
wirklicher als mein zweidimensionales Ich,
das Ich im Glas?
«Wer bin ich?», hatte sie mich gefragt,
mit gebrochener Stimme, verzweifelt.
Hilflos.
Ich hätte etwas sagen sollen, hätte ihr anders antworten sollen,
eine simple Erwiderung, einfach, aber wahr.
«Vergiss nicht, wer du bist», hallt es in meinem Kopf wider,
während ich mich im Spiegel betrachte,
während ich mein virtuelles Bild betrachte.
Sollte man nicht eher auf seine Träume achten,
in den Träumen leben, um sie zu verwirklichen?
Sollte es nicht besser heissen: «Vergiss nicht, wer du sein willst?»
Und wenn du nicht weisst, wer du bist,
ist es manchmal auch genug
einfach zu sein.
«Du bist», hätte ich sagen sollen. Du bist.
Vera Vuskovic ist Schülerin der Klasse 3i und Teil der Redaktion LGazette SJ 24/25.
Illustration: Sienna Richards-Bohren