Kurzgeschichte
Ich sehe mich
von Vera Vuskovic
Stirnrunzelnd betrachte ich mein Spiegelbild. Ich sehe mich. Ein unscheinbares, etwas blasses Mädchen mit schulterlangen Haaren. Ich überlege mir, ob ich heute vielleicht etwas Lippenstift auftragen soll… ich entscheide mich dafür. Es ist keine prägnante Farbe, fast nicht zu sehen. Trotzdem bemerkt ihn meine Mutter sofort. Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert sie mich. «Sag mal, hast du etwa Lippenstift drauf? Solltest du deine Zeit nicht mit was Sinnvollerem verbringen? Deine Noten sind in diesem Semester nicht gerade blendend, wie willst du einen anständigen Job bekommen, wenn du so weitermachst?!» Sie blafft weiter, während ich das Donnerwetter geduldig über mich ergehen lasse. Es hat sowieso keinen Zweck mit ihr zu diskutieren. Also stehe ich einfach nur da, während meine Laune immer tiefer und tiefer in den Keller sackt.
Nun bin ich spät dran, ich eile den Weg entlang zum Schulhaus. Ich gehe an einem geparkten Auto vorbei, wobei ich der Versuchung nicht widerstehen kann, einen Blick auf die spiegelnde Scheibe zu werfen. Es ist wohl zum Reflex geworden. Irgendwie sehe ich diesmal anders aus als heute Morgen. Älter. Wichtiger. Oder ist es Verzweiflung?
«Das kannst du dir nicht erlauben, du hattest schon so viele Ungenügende, so kann das nicht weitergehen, hörst du? Du hattest mit Abstand die tiefsten Noten, du kannst schlichtweg nicht mit der Klasse mithalten!» – «Ich habe mein Bestes gegeben, Herr Meier.» Ich verspüre den Drang, mich zu verteidigen. Es ist eine Art Pflicht. «Ich weiss», seufzt er, «aber es ist trotzdem nicht gut genug.»
Während seine Worte weiter auf mich herunterprasseln, schweifen meine Gedanken ab. Ich blende ihn aus. Ich blende alles aus. Alles, ausser den Augen, die mich vom Spiegel des Waschbeckens aus anstarren. Ich starre zurück. Ich suche den sicheren Blick, den ich früher so oft gesehen habe, suche Halt. Doch je länger ich schaue, desto mehr verformt sich mein Gesicht im Spiegel. Meine Augen weiten sich, sie sind unsicher, verängstigt. Hilflos.
Auf dem Weg nach Hause kicke ich missmutig einen Stein vor mir her. Er kullert die Strasse hinunter, bis ich ihn aus den Augen verliere.
Eine Gruppe lachender Mädchen reisst mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich an ihnen vorbeiquetschen, sie nehmen so viel Platz ein. Ich werde nicht weiter beachtet, nicht wie das Mädchen in ihrer Mitte. Sie sieht glücklich aus. Sie sehen alle glücklich aus. Für einen Moment glaube ich, mich mit ihnen zu sehen, zwischen ihnen zu stehen, ihre Aufmerksamkeit zu haben, ihre Lippen an meinen Worten kleben zu sehen. Es fühlt sich gut an, in einer Welt zu schweben, die ich nie kannte, nie kennen werde. In einer Fantasiewelt. Ein Laut, eine Mischung aus einem Schnauben und einem Lachen, entfährt mir. Die Absurdität, dass ich lieber in Tagträumen verweile, als in der Realität zu leben, ist so bitter, dass sich meine Lippen zu einem humorlosen Lächeln verziehen.
Ein Zitat von Lady Gaga hallt auf einmal in meinem Kopf wider. «Du brauchst Einbildung, um die Wirklichkeit zu überleben», meint sie. Es scheint so einfach, so simpel. Als hätte jeder eine Hintertür in seinem Verstand, durch die er jederzeit flüchten kann. Warum habe ich das Gefühl, nicht einmal dies hinzubekommen? Wohin ist meine Tür verschwunden, warum kann ich sie nicht öffnen? Ich dachte immer, wenn ich nur hoch genug springen würde, könnte ich der Schwerkraft entfliehen. Vielleicht sollte ich einfach aufhören, es zu versuchen, wenn ich es sowieso nicht schaffe. Wenn ich sowieso nicht die Person sein kann, in deren Kleid meine Mutter mich zu zwängen versucht, wenn ich nie so werde, wie es mein Lehrer von mir erwartet, oder so hübsch, wie es die Gesellschaft von mir fordert, weshalb sollte ich versuchen, etwas zu sein, das ich nicht bin, nie sein werde? Kann ich das überhaupt? Nein, schiesst es mir durch den Kopf, es hallt dort wider, prallt an den Wänden meines Schädels ab und sickert immer tiefer in meinen Verstand, frisst sich regelrecht in mein Gehirn, bis ich nichts mehr spüre, nichts mehr höre als das Pochen, Pochen, Pochen meines Herzens und das Rauschen meines Blutes, ein Dröhnen, so laut, dass es alles übertönt, alles, ausser dieses eine, einzige Wort.
Nein.
Es tut weh. Fast so weh wie die 1000 Kilo Luft, die auf mich runterdrücken, so schwer, dass es mir den Atem nimmt, mir die Brust zusammenquetscht, bis ich nicht mehr kann. Ich ersticke an Luft. Mit zitternden Fingern ziehe ich meinen Taschenspiegel aus der Tasche.
Ich schaue in den Spiegel. Ich sehe mich. Oder doch nicht? Das Spiegelbild verformt sich, es lächelt mich an, scheint zu grinsen. Ich grinse nicht, da bin ich mir sicher. Doch mein Spiegel-Ich lächelt weiter, die Augen werden kleiner und kleiner, zu Schlitzen. Ich sehe mich als Wissenschaftlerin in einem weissen Labormantel, als Schriftstellerin, als Klassenbeste, als Beliebteste, als alles, was ich sein will und muss und nie sein werde; als alles, was sie wollen, dass ich es bin, was ich auch will? Was will ich? Wie aus weiter Ferne höre ich ein Schluchzen, es kommt aus meinem Mund. Ich sinke auf die Knie, ich spüre etwas Hartes, Scharfes unter meiner Hand. Ich hebe sie und sehe Blut, ich muss den Spiegel fallen gelassen haben. Ein hysterisches Glucksen entfährt meinen Lippen, unecht, falsch. Es muss wehtun, doch ich spüre nichts. Tränen kullern von meiner Wange auf die Scherben. Mein Spiegelbild weint auch. Ich schliesse die Augen. Als ich sie wieder öffne, senke ich langsam den Blick auf den zerbrochenen Spiegel.
Meine Augen fixieren eine Scherbe. Sie liegt inmitten der anderen Scherben. Meine Augen fokussieren darauf, es fällt alles weg, alles, nur diese eine Scherbe bleibt. Ich sehe einen Ausschnitt meines Gesichts. Es ist nicht verformt. Es ist nicht perfekt. Es ist ein Teil von mir.
Ich sehe mich.
Vera Vuskovic ist Schülerin der Klasse 3i und Teil der Redaktion LGazette SJ 24/25.
Illustration: Martina Ljubic