GESPRÄCH

Warten auf den Vulkanausbruch

 

mit Franz Hohler sprachen Emilie van Kleef, Louis Rast und Anna Scharrer

 

Louis Rast  Im Frühling 2019 nahm ich an einem Klimastreik teil. Ich war das erste Mal an einer Demonstration und beeindruckt von der Stimmung.    
Dass plötzlich die breitere Öffentlichkeit und die Medien über das Thema Klimaschutz sprachen, regte mich selbst an, darüber mehr nachzudenken.

Franz Hohler  Ihr Anstoss war demnach nicht ein Ereignis, das Ihnen selbst passiert ist. Ich meine etwas Aussergewöhnliches – sei es Hitze oder Kälte oder seltsame Stürme – also kein Naturereignis, sondern diese Demonstration?

Louis Rast  Es gab zu dieser Zeit tatsächlich kein Naturereignis, an welches ich mich erinnere. Und wenn es eines gab, habe ich es einfach nicht wahrgenommen.

Franz Hohler  Und wie war es bei Ihnen, Anna und Emilie?

Emilie van Kleef  Bei mir war dies sehr ähnlich. Ich wurde auf die Klimakrise aufmerksam, als die Klimabewegung unserer Generation Fahrt aufnahm und man über Greta Thunberg sprach. Ich fand das sehr beeindruckend, wie sie jeden Freitag streikte und setzte mich ab diesem Zeitpunkt stärker mit dem Thema auseinander.  Zusammen mit meinen Freund:innen ging ich an die Klimastreiks. Gruppendynamik spielte zu Beginn natürlich auch eine Rolle. Ich bin einfach mitgegangen und habe die Thematik im Laufe der Zeit mit immer grösserer Aufmerksamkeit weiterverfolgt.

Anna Scharrer  Ich kann auch kein spezielles Ereignis nennen, welches mich alarmiert hätte. Das erste Mal bin ich über meine Familie mit dem Thema «Klimaschutz» in Berührung gekommen. Beim Abendessen haben wir öfters darüber gesprochen. Durch unseren Austausch wurde mir die Wichtigkeit klar; was mich dazu brachte, mit Freund:innen an der Schule darüber zu sprechen. Bald ging ich zum ersten Mal an einen Klimastreik. Aber wie gesagt, ich habe da nicht so einen bestimmten Moment.

Franz Hohler  Ich erzähle gerne, wie ich auf den Klimawandel aufmerksam wurde. Das war, als das Buch Die Grenzen des Wachstums 1972 herauskam. Es handelt sich dabei um den ersten Bericht des Club of Rome – eines Gremiums von Wissenschaftler:innen, welches heute noch besteht.
Ich habe das Buch gelesen und war davon ausserordentlich beeindruckt. Weil darin verschiedene Szenarien aufgezeigt wurden. Ihr wisst schon: «Was passiert, wenn…?» Eine Vorhersage war auch die Klimaerwärmung, auf dem Gedanken basierend, dass alles, was in der Welt geschieht, miteinander zusammenhängt. Also der berühmte Satz: Wenn ein Schmetterling in Brasilien mit den Flügeln schlägt, entsteht in Texas ein Tornado. Das ist eine Metapher, nicht wahr? Und zwar dafür, dass nichts, was irgendwo passiert, für das Weltgeschehen gleichgültig ist. Und die Autor:innen des Buches haben das mit Zahlen und mit Tabellen gezeigt, mit Statistiken. Im Buch erfährt man auch, dass das Blei, das aus den Verbrennungsmotoren von Autos ausgestossen wird, im Grönlandeis zu finden ist. Je nachdem, wie gewisse Stoffe verbreitet werden, können diese manchmal weit entfernt noch eine schädliche Wirkung haben. Das hat mich sehr beeindruckt. Gleichzeitig fand ich, man müsste das Ganze doch einfacher ausdrücken können, ein bisschen populärer. Dieser Teil inspirierte mich dann zu meiner Ballade Der Weltuntergang. Wenn ich diese Ballade heute vortrage – zum Beispiel in einer Schulklasse – und frage: «Was denkt Ihr, wie alt ist diese Geschichte?» So liegt die Vermutung meistens zwischen zwei und fünf Jahren. Der Text ist bald schon 50 Jahre alt! Das liegt weit vor eurer Geburt, so lange ist die Problematik schon bekannt! Und so lange wurde es einfach nicht ernst genommen.

Ich finde es interessant, dass für Sie die Klimabewegung an sich der Auslöser für die Beschäftigung mit der Thematik war. Denn ich zum Beispiel habe im Laufe meines Lebens die Gletscher verschwinden sehen! Kleinere Gletscher, die immer mehr zu kleinen Firnflecken wurden und heute nicht mehr existieren. Das ist für mich ein äusserst schmerzhafter Anblick. Als es die dazugehörigen Messungen schon gab, tat die Mehrheit der Politik den Temperaturanstieg noch als natürliche Schwankung ab! Viele wollten es nicht wahrhaben.  

Ich weiss nicht, ob jemand von Ihnen den Morteratsch-Gletscher kennt. Er liegt bei Pontresina im Oberengadin. Dieser Gletscher kam früher durch das ganze Morteratsch-Tal bis vor die heutige Eisenbahnstation. Wenn man den Weg Richtung Gletscher geht, trifft man auf Zeittafeln. Dann heisst es: «Stand des Gletschers 1910», «Stand des Gletschers 1920». Beim Weitergehen werden die Zeittafeln immer enger, bis man ihn endlich sieht. Ich kann diesen eindrücklichen Spaziergang allen empfehlen, um sich die Gletscherschmelze bildhaft vor Augen zu halten. In meinem Alter fühle ich mich dem Gletscher verbunden, denn ich selbst bin auch ein schmelzender Gletscher. Mein Vorrat an Zukunft schmilzt.

Louis Rast  Bei diesem Stichwort erinnere ich mich soeben, dass ich das Gletscherschmelzen als Kind auch mitbekommen habe. Ich brachte es aber nicht mit der Klimaerwärmung in Verbindung. Das erschreckt mich nachträglich!
Eine weitere Erinnerung – mein Vortrag über den Aralsee in der 6. Primarklasse – fällt mir ein. Dieser liegt an der Grenze zwischen Kasachstan und Usbekistan. Er war riesig, ungefähr zweimal so gross wie die Schweiz! In den 1960er Jahren hat der Generalsekretär der UdSSR veranlasst, dass die Zuflüsse Amudarja und Syrdarja zur Nutzung von Baumwollplantagen umgeleitet wurden. So trocknete der Aralsee aus, und wurde zur Aral Kum, zu einer Salzwüste. Es war für mich ein Schock; diese Vorstellung, nein diese Erkenntnis, wie der Mensch ein Ökosystem zu seinem Vorteil verformen kann. Aber die Fischer:innen dort verloren ihre Lebensgrundlage, das Ufer wurde unbewohnbar. Ich denke, dass dieser Punkt insofern mit dem Klimawandel zusammenhängt, als dass beide Katastrophen von uns Menschen herbeigeführt worden sind.

Franz Hohler  Die Ausbeutung durch den Menschen, ja.

Louis Rast  Denken Sie, Herr Hohler, dass Sie damals in den 1970er Jahren zu einer eher kleinen Anzahl Personen gehört haben, die sich dem Klimaschutz widmeten und begriffen, dass es sich dabei um ein schwerwiegendes Problem handelt?

Franz Hohler  Ich habe es zumindest so empfunden, dass sich zu wenige Menschen dafür interessierten.  Gleichzeitig wurden Anfang der 1970er in der Schweiz die ersten Atomkraftwerke geplant und gebaut. Ich habe mich damals auch mit der Kernkraft beschäftigt und kam zur Ansicht, dass es eine Technologie ist, die wir nicht verantworten können. Die toxischen, radioaktiven Abfälle, die für Tausende, sogar Hunderttausende von Jahren von der Atmosphäre bzw. der Biosphäre ferngehalten werden müssen. Es gab da einen Satz, den ich damals öfters zitierte: «An die hochradioaktiven Abfälle müssen vor allem während der ersten tausend Jahre allerhöchste Sicherheitsanforderungen gestellt werden.»
Bei «die ersten tausend Jahre» dachte ich mir, was heisst denn das? Vor tausend Jahren war hier bei uns tiefstes Mittelalter und es waren Kriege im Gange. Wie können wir annehmen, dass während der nächsten tausend Jahre überall genug Sicherheit herrscht, sodass die Abfälle sicher aufbewahrt werden können? Und das war dann – wenn ich an die Klimajugend von heute denke – etwas, wofür ich an Demonstrationen teilnahm. Ich habe auch mal ein Strassentheater gemacht und damit traten wir vor dem AKW Gösgen auf, noch vor dessen Inbetriebnahme. Im Laufe der Zeit habe ich dann gesehen, wie die Meinung einer Minderheit von AKW-Gegner:innen mehrheitsfähig wurde. Nach der Katastrophe von Fukushima beschloss der Bundesrat ein Moratorium für Atomkraftwerke. Es wurde beschlossen, dass keine weiteren mehr gebaut werden. Und heute sehe ich mit Erstaunen, dass es grosse Bemühungen gibt, Atomkraftwerke wieder als klimafreundlich zu bezeichnen. Sie werden als Alternative zu fossilen Energien dargestellt – obwohl sich an ihrer Gefährlichkeit rein gar nichts geändert hat! Wie man bei Fukushima und auch bei Tschernobyl gesehen hat, können AKWs jederzeit eine Katastrophe gewaltigen Ausmasses verursachen. Und das mit den Abfällen ist etwas, das wir einfach nicht in der Hand haben.

Louis Rast  Anfang 2021 hat Bill Gates ein Buch veröffentlicht: Wie wir die Klimakatastrophe verhindern. Das Buch präsentiert verschiedene Innovationen und Ideen, im ersten Teil des Buches vor allem auf dem Gebiet der Stromversorgung. Beim Lesen wurde mir klar, dass es bereits viele klimaschonende Möglichkeiten gibt, die man einsetzen könnte. Es wäre den USA zum Beispiel möglich, ihren gesamten Stromverbrauch durch Windräder an der Meeresküste zu decken.
Auch wenn das Buch sehr nützlich ist, kommt dennoch zum Vorschein, dass Bill Gates ein Unternehmer ist und das Ganze oft nur aus diesem Blickwinkel betrachtet. Er denkt zum Beispiel daran, dass man die Atomkraft verbessern könnte, spricht von seiner eigenen Firma, wirbt ein wenig dafür und sagt, dass sie einen Prototypen – im Computermodell – entwickelt haben, der weniger Abfall produzieren würde und zusätzlich weniger lang radioaktiv sei – nur ein paar hundert Jahre. Zuerst dachte ich: «Wow, das ist doch grossartig!» Aber Atomstrom bleibt nun mal gefährlich. Was haltet Ihr denn davon? Können wir es uns weiterhin leisten, Atomstrom – mit weniger radioaktiven Abfällen – zu produzieren? Angenommen, so ein Modell würde funktionieren?

Emilie van Kleef  Ehrlich gesagt, müsste ich mich mehr damit auseinandersetzen, um eine klare Meinung bilden zu können. Auf den ersten Blick bin ich mir nicht sicher, ob ich dem Ganzen traue. Ich habe auch schon von diesem Buch gehört, es aber noch nicht gelesen. Denn ich habe das Gefühl, Bill Gates ist mehr auf den Profit aus, als dass ihm radikaler Klimaschutz am Herzen liegen würde. Ich sehe darin ein wenig Greenwashing – den Versuch, sich klimafreundlich darzustellen, um mehr Geld zu machen. Auch mit der Atomkraft müsste ich mich genauer beschäftigen, um darüber eine klare Meinung zu haben.

Franz Hohler  Dazu noch zwei Dinge. Erstens: Die Naturgesetze können wir nicht ändern. Eine Spaltung eines Urankerns bringt nach wie vor mehr als 200 verschiedene Spaltprodukte hervor. Elemente, die es zum Teil in der Natur gar nicht gibt und die erst nach der Spaltung freigesetzt werden. Beispielsweise Plutonium, eines der absolut giftigsten Elemente, sobald der Mensch mit ihm in Berührung kommt. Deshalb bin ich sehr skeptisch, wenn von einer Verbesserung der Atomenergie gesprochen wird oder wenn man darauf hofft, dass die Abfälle nur wenige hundert Jahre radioaktiv sind – das ist auch ein Euphemismus. Zweitens: Man hört oft von Wirtschaftsleuten, man müsse den Staat führen, wie ein Unternehmen. Dann würde man viel schneller reagieren, wenn man nicht diese lästige Demokratie hätte, in der alle auf alle Rücksicht nehmen. Wovon für mich eigentlich eher zu wenig gesprochen wird, ist, wie man wirklich weniger verbrauchen könnte. Wie wir unseren Fussabdruck sanfter machen können. Ich halte zum Beispiel die Vorstellung, dass E-Autos anstelle von Diesel- und Benzin-Fahrzeugen ein Gewinn für die Umwelt sind, für illusorisch. Woher kommt dann die Energie? Letztendlich wieder von Atomkraftwerken, da wir so viel gar nicht produzieren können, wie wir jetzt benötigen. Der Strom, der nicht gebraucht wird, ist viel wertvoller fürs Klima als der Strom, der gebraucht wird. Ich denke, die Bemühungen müssen dorthin gehen, weniger zu verbrauchen.

Louis Rast  Haben Sie auch schon davon gehört, dass es neuere, stärkere Batterien braucht, um überschüssigen Strom sparsam zu speichern?

Franz Hohler  Ja, ich finde alle technischen Erneuerungen gut. Es ist auch eine Herausforderung für die Physik respektive für die Wissenschaft überhaupt. Auch die Idee, wie man das CO2 aus der Atmosphäre zurückholen kann. Alles würde ich unterstützen. Aber ich möchte einfach warnen, vor zu grossen Hoffnungen! Letztlich muss es eines der Hauptziele sein, weniger zu brauchen. Ich empfehle jedem das Büchlein Weniger ist weniger von Matthias Plüss, mit seinen Tipps, was man selbst tun kann, um das Klima zu schützen.
Das Wort Verzicht ist bereits beladen: Ja, wir müssen verzichten! Wo sind die Alternativen, die uns Freude machen können. Wenn plötzlich der Flug in die Anden ausfällt, wie wir das jetzt mit Corona erleben. Dann könnte man doch mal versuchen, in die Alpen zu gehen, die viel näher liegen. Sie sind mit dem öffentlichen Verkehr oder auch zu Fuss erreichbar. Nun, solche Art von Kompensation, auch von emotionaler Kompensation, die fände ich sehr wichtig.

Emilie van Kleef  Sie haben vorher die Hoffnung angesprochen. Gestern haben wir alle zusammen ihre Ballade Weltuntergang gelesen. Ich war davon sehr fasziniert. Diese Ballade ist – wie Sie zuvor erwähnt haben – bereits 50 Jahre alt und besitzt trotzdem noch so viel Aktualität. Ich fände es ziemlich deprimierend, hätte ich vor 50 Jahren einen Text veröffentlicht, der so viele Fakten über den Klimawandel enthält, und in all diesen Jahren hätte sich – wie geschehen – in Sachen Klimaschutz nicht viel geändert. Ich selbst bin noch nicht sehr lange auf der Welt und noch weniger lange habe ich mich mit dem Thema des Klimawandels beschäftigt. Und trotzdem verliere ich manchmal bereits die Hoffnung, dass wir vor dem Kipppunkt, diesen +1.5 Grad Erderwärmung, den Klimawandel noch stoppen können. Haben Sie noch Hoffnung?

Franz Hohler  Immer!

Emilie van Kleef  Immer?

Franz Hohler Ja! Ich glaube es war Martin Luther, der sagte, «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen». Und diese Ballade habe ich geschrieben, nicht weil man daran glaubt, dass die Welt untergeht, sondern weil man hofft, dass sie nicht untergeht. Das sind eigentlich Texte der Hoffnung. Wenn man schwarzmalt, hofft man eben, dass es farbig herauskommt und nicht schwarz bleibt, weil man etwas zeigen will, das verhindert werden sollte. Und die Geschichte ist nie geradlinig verlaufen. Für mich war die Pandemie insofern ein sehr starkes Erlebnis und auch ein Erlebnis, das Hoffnung macht. Während des Lockdowns wurde sofort der CO2-Ausstoss geringer, die Luft wurde sauberer. In den Lagunen von Venedig sah man wieder die Fische! Es passierte sehr viel Ermutigendes. Auch, dass der individuelle Verkehr zurückging, auf den Autobahnen wie in der Luft, lauter Dinge, von denen die Politik gesagt hat, dass sie nicht möglich, illusorisch seien. Plötzlich kommt dieses winzige Virus und macht das alles möglich! Und solche Überraschungen halte ich jederzeit für möglich. Man weiss ja, dass ein Vulkanausbruch im 12. Jahrhundert zu dieser kleinen Eiszeit geführt hat. Der hatte eine gewaltige Wirkung, die Temperatur sank. Wer weiss, ob nicht morgen die Erde irgendwo aufreisst, und ein Vulkan ausbricht, der die ganze Welt um 1.5 Grad kühlt. Ich meinte, das hätte sicher auch andere Folgen. Es wäre dann eine Katastrophe, die die andere ablöst. Auch die Pandemie ist eine Katastrophe. Es ist immer eine Rechnung mit sehr vielen Unbekannten und ich hoffe einfach, dass die Hoffnung nie zugrunde geht. Auch, dass sie bei Ihnen nicht zugrunde geht. 1943, als ich geboren wurde, war die Schweiz umzingelt von Feinden – vom faschistischen Regime in Italien und von den Nationalsozialisten in Deutschland und Österreich. Meine Eltern waren sehr mutig, daran zu glauben, dass es schon gut kommt, dass sie uns, meinen Bruder und mich, auf die Welt gestellt haben. Auch heute sollen die Menschen Bäumchen pflanzen, Kinder auf die Welt stellen. Kinder sind die Botschafter des Lebens und auch die Träger der Hoffnung. Also nicht die Hoffnung verlieren, ihr Lieben!

Anna Scharrer  Ich finde, auch wenn die Hoffnung schwindet, sollte man sich dennoch an den kleinen Dingen festhalten, die sich positiv aufs Klima auswirken. Sie haben zuvor das Coronavirus erwähnt. Es ist schön zu sehen, wie sich die Umstände während des Lockdowns zum Teil verbesserten. Aber ich glaube, das Virus hat auch dafür gesorgt, dass man nun nicht mehr so viel an den Klimawandel denkt. Die Gedanken sind stattdessen oft bei der Pandemie.

Franz Hohler  Ja, das scheint mir auch so. Das Virus ist so stark in den Vordergrund gerückt. Der Mensch erträgt einfach nicht zu viele Katastrophen auf einmal. Deshalb finde ich auch gut, wenn immer mal wieder darauf hingewiesen wird und darauf aufmerksam gemacht wird, dass wir möglicherweise ein viel grösseres Problem haben als Corona.

Louis Rast  Ich habe mich gefreut, als ich in der Zeitung las, dass während des Lockdowns weltweit weniger CO2 ausgestossen wurde und sich das direkt auf die Erwärmung ausgewirkt hat. Ich bekam kurz ein Alles-wird-gut-Feeling. Doch das wurde durch den Pandemiealltag verdrängt.

Franz Hohler  Der Pandemiealltag macht allen grosse Sorge. Wie soll man sich verhalten? Was ist richtig und was ist falsch? Und macht auch unheimliche Gräben auf, dass ich das Gefühl habe, sehr viel Leidenschaft und auch politische Leidenschaft, geht in die Coronakrise und weniger in die Bekämpfung der Klimakrise.

Louis Rast  Ich bin einerseits froh über die vielen technischen Dinge, die es schon gibt; andererseits bin ich etwas überfordert, wenn ich an all die Herausforderungen denke. Ich orientiere mich am Faktischen, setze meine Hoffnungen in Erfindungen und weniger auf Eigeninitiative. Aber ich versuche, generell nicht zu fliegen und wenig Auto zu fahren. Ich hatte eine Phase, da wollte ich überhaupt nicht mehr in ein Auto steigen und bin immer mit dem Zug gereist.

Emilie van Kleef  Im Alltag mache ich die typischen Dinge, um Einfluss zu nehmen. Ich esse kein Fleisch mehr, benutze die öffentlichen Verkehrsmittel, kaufe keine Fast-Fashion-Kleidung. Aber um den Klimawandel aufzuhalten, reicht das eben nicht ganz. Und das ist auch der Grund, weshalb ich manchmal die Hoffnung verliere. Wir haben die Fakten: Wenn wir jetzt nicht handeln, kommt es zur Katastrophe. Und trotzdem geschieht in der Politik nicht viel. Trotzdem fand ich Ihre Antwort auf die Frage nach der Hoffnung sehr schön. Es gibt einem ein wenig Motivation. Ich behalte für mich die Hoffnung, dass bald ein Vulkan ausbricht.
Angst habe ich trotzdem nicht. Greta Thunberg sagte in einer Rede: «Ich möchte, dass ihr die Angst spürt, die ich spüre.» Und da habe ich bemerkt, ich kann diese Angst nicht spüren. Klar, ich kenne die dystopischen Szenarien, welche in gewissen Dokumentationen präsentiert werden, und ich weiss auch, was irgendwann passieren wird. Aber ich glaube, die Katastrophe ist zu gross und zu abstrakt, als dass man sie vollkommen wahrnehmen kann. Und deshalb kann ich die Hoffnung auch nicht komplett verlieren. Dennoch habe ich teilweise Momente der Niedergeschlagenheit, in welchen ich denke, wir schaffen es nicht mehr.

Franz Hohler  Ja, wir leben hier auch relativ komfortabel. Wir haben genügend Wasser von den Bergen, obwohl sich die Elektrizitätswirtschaft mit der Frage des Wassermangels beschäftigt, wenn die Gletscher mal geschmolzen sind. Wir hatten einen schweren Schneesturm im letzten Januar, wir hatten einen schweren Sturm im Sommer mit unwahrscheinlichen Bildern, der Bucheggplatz war mit umgestürzten Bäumen geschmückt. Und trotzdem wirken die Bilder nicht, wie beispielsweise das Bild des Ministerpräsidenten von Tuvalu, der sich, im Meer stehend, mit einer Botschaft an die Konferenz von Glasgow gewendet hat. In der Ballade Der Weltuntergang gibt es die Stelle (singt): «Und die Mee – he – re stiegen!» Das ist ein verrücktes Bild!

Anna Scharrer  Emilie, du hast doch gesagt, dass du die kleinen Bemühungen eigentlich gut findest, aber dass wir vor allem auf das Handeln auf politischer Ebene angewiesen sind. Mir fällt auf, dass viele in meinem Alter denken, dass sie sich keine Mühe machen müssen, irgendetwas am Lebensstil zu verändern, wenn es ja sowieso keine direkte Wirkung zeigt. Die landläufige Meinung ist: Die Politik wird respektive muss das irgendwie schaffen. Meiner Meinung ist eine solche Einstellung verheerend. Weisst du, was ich meine? Wenn alle nur noch hoffen, dass wir bestimmt noch gerettet werden, und niemand mehr selbst etwas unternimmt, ist das ja dann auch nicht gut.

Emilie van Kleef  Sowieso. Es ist besser, klimafreundlich zu leben, ich mache es ja auch aus Überzeugung. Aber ich meinte damit eher, dass es nicht reicht, die Verantwortung auf das Individuum zu reduzieren. Vielleicht haben Sie, Herr Hohler, auch schon vom CO2-Fussabdruck gehört. Es gibt eine Homepage, auf der man berechnen kann, wie klimafreundlich man lebt. Das Lustige daran ist, diese wurden von der Firma Shell entwickelt. Shell, das Mineralöl- und Erdgasunternehmen, hat also ein Tool entwickelt, um dem Individuum zu zeigen, wie stark es – das Individuum – die Welt zerstört und was es alles noch verbessern könnte. Wahrscheinlich, um von den eigenen Geschäften abzulenken. Und nebenbei hat Shell damit ziemlich viel Geld verdient. Solche Fälle zeigen meines Erachtens, dass der Klimaschutz in der Politik ebenfalls wichtig ist.

Franz Hohler  Ich finde, es braucht beides. Im bereits erwähnten Buch von Matthias Plüss macht er darauf aufmerksam, dass Kaffee einen viel stärkeren Fussabdruck hat als Tee. Dass Tee von der ganzen Verarbeitung und vom Transport her im doppelten Sinn ein bedeutend milderes Getränk ist. Seit wir das gelesen haben, machen meine Frau und ich – wir trinken gerne Kaffee – einmal einen Kaffee-Tag und am nächsten Tag einen Tee-Tag. Es erinnert einen eben immer daran, warum man es tut. An dem, was Sie sagen, ist aber schon etwas daran. Das geht in die Richtung: «Auf mich kommt’s nicht an, kann ich denn die Welt verändern?» Und natürlich, ich kann die Welt nicht verändern. Und das überträgt sich dann aber auch auf politische Diskussionen, wenn es um Einschränkungen geht. Ich war einmal in einer Arena-Diskussion, da ging es um das Klima: Was können wir tun, was müssen wir tun? Sollen wir uns einschränken? Und da war sofort die rechte Seite, jemand von der SVP und jemand von der FDP, die dann gesagt haben, wir stellen 0.01 Promille der Weltbevölkerung. Was bringt es denn, wenn wir etwas tun wollen? Und ich habe dann geantwortet, dass es eben auch so etwas wie eine Signalwirkung gibt, wenn der Kanton Zürich beispielsweise ein neues Energiegesetz annimmt, das fossile Heizungen in Zukunft verbietet, dann hat das eine Signalwirkung auf andere Kantone und auch ohne weiteres über die Grenzen hinaus.
Henry Dunant, ein Kaufmann, der im 19. Jahrhundert lebte, wurde, als er sich auf einer Geschäftsreise befand, zufällig Augenzeuge der Entscheidungsschlacht von Solferino beim Gardasee (1859). Er hat seine Beobachtungen geschildert in Erinnerungen an Solferino. Dieses Buch hat dazu geführt, dass das Rote Kreuz gegründet wurde. Die Organisation wurde anfangs belächelt, heute aber handelt es sich um eine Weltorganisation, die aus dem Gedanken entstanden ist, man müsse doch etwas tun. Diese Frage sollte man nie vergessen, man sollte sie ruhig auf sich selbst beziehen, aber auch auf die Umgebung, in der man politisch wirksam sein kann. Man sollte sich selbst jedoch auch nicht quälen müssen. Stichwort: kein Fleisch essen. – Ja, was ist denn die Alternative? Wundervolle vegetarische Gerichte, das ist auch etwas, das ich erlebt habe. Als ich jung war, gab es in Zürich zwei vegetarische Restaurants, die wurden belächelt, dort gingen nur bleiche Leute hin mit unglücklichen Gesichtern und assen irgendwelches Pflaumenmus an Hirsepflute. Die haben etwas Freudloses ausgestrahlt. Inzwischen ist die vegetarische Küche, auch über den Osten, Indien zum Beispiel, unheimlich stark geworden und wir haben Lokale wie Tibits oder Hiltl, die eine Kunst daraus machen. Das ist die lustvolle Seite des Verzichts, die sollte man auf keinen Fall vergessen.

 


Franz Hohler ist einer der bedeutensten zeitgenössischen Schweizer Autoren.
Emilie van Kleef ist Maturandin am LG.

Louis Rast ist Schüler der Klasse 4d.
Anna Scharrer hat am LG soeben erfolgreich die Probezeit absolviert.
Bilder: Elena Benzoni
Illustration: Jonathan Mannel (5a)