Reportage

Gleich und doch verschieden

von Jiefu Liu

Nichts Gewöhnlicheres als das: Jeden Tag sehen wir Gesichter von uns bekannten Menschen und wissen, mit wem wir es zu tun haben. Aussehen und Identität – wir verknüpfen diese in der Regel mühelos. Doch was, wenn zwei Menschen gleich aussehen, wenn uns also eineiige Zwillinge begegnen? Wie unterschiedlich sind die Menschen, die mit demselben Äusseren durchs Leben gehen? Sind sie auch innerlich eine Kopie voneinander? 

Um dieser Frage nachzugehen, gehe ich in die Bäckerei Berner am Hottingerplatz. Dort treffe ich die eineiigen Zwillinge Ben und Tim. Ich setze mich an einen Tisch am Fenster, bestelle einen Kaffee und schaue nach draussen. Da sehe ich die beiden 15-Jährigen ins Café kommen. Obwohl ich weiss, dass sie eineiige Zwillinge sind, überrascht es mich, wie ähnlich sie sich sehen. «Gibt es überhaupt einen Unterschied?», frage ich mich. Die beiden tragen die gleiche Frisur, ihre Mimik wirkt auf mich identisch und gleich gross sind sie auch. Nur durch ihre unterschiedliche Kleidung kann ich sie auseinanderhalten. Ich frage sie voller Begeisterung und Erstaunen, ob sie denn häufig verwechselt werden. 

Die beiden bejahen meine Frage. «Eltern, Verwandte oder beste Freunde können uns unterscheiden, aber die meisten anderen eher nicht.» Sie nennen mir Beispiele aus dem Schulalltag und dem Familienleben. Während sie meine Fragen beantworten, kann ich den Jungs nicht einmal die Stimmen zuordnen. Würde ich sie nicht ansehen, wüsste ich nicht, wer von beiden spricht. Beim Betrachten ihrer Hände fällt mir auf, dass sie diese auf die gleiche Art und Weise aneinanderreiben. Ist das nur ein Zufall oder noch eine Gemeinsamkeit? Ich teile ihnen meine Beobachtung mit und stelle ihnen meine wichtigste Frage: «Wodurch unterscheiden sich Zwillinge?» 

«Also, ich habe zum Beispiel eine starke Pollenallergie, während der da jahrelang keine Allergie hatte», antwortet Tim aufgeregt und zeigt auf Ben. Er beklagt sich darüber, wie unfair das sei und wir lachen. Ausserdem erfahre ich von Tim, dass sie unterschiedliche Charaktere haben: «Unsere Persönlichkeiten sind für manche gleich, aber ich finde, dass ich mich stark von Ben unterscheide.» Das überrascht und verwirrt mich, weil sie auf mich so wirken, als hätten sie auch einen identischen Charakter. Ich hake also nach. Tim fährt fort: «Ich habe mich anders entwickelt als Ben. Man sieht auch die Unterschiede vom Aussehen her. Und auch bei der Art, wie wir fühlen und denken, gibt es Unterschiede. Es werden sich in Zukunft wahrscheinlich noch mehr Unterschiede herausbilden.» Ich frage die beiden, ob sie denn die gleichen Interessen und Hobbys haben, worauf mir Ben entgegnet: «Ich betreibe einen Sport, den er nicht macht und er betreibt einen Sport, den ich nicht mache. Aber wir beide biken, windsurfen und segeln.»  

Um zu verstehen, warum eineiige Zwillinge nicht nur identisch aussehen, sondern sich oft auch in vielen anderen Verhaltensweisen gleichen, muss man zurück zu ihrem Ursprung gehen und einen Blick auf die Genetik werfen. Eineiige Zwillinge entstehen, wenn sich eine einzige Zygote nach der Fusion in zwei genetisch identische Keimzellgruppen aufteilt. Daher kommt auch der Name «monozygote Zwillinge». Das altgriechische Wort ζυγωτός bedeutet auf Deutsch «wohlbespannt» bzw. «durch ein Joch verbunden». Das Wort «Monozygote» bezeichnet «eine einzige Keimzelle». Eineiige Zwillinge haben nach der ersten Zellteilung also identische DNA, weshalb sie die gleichen genetischen Merkmale wie Augenfarbe, Haarfarbe und Blutgruppe aufweisen. Entsprechend ist auch der Stoffwechsel, also die Geschwindigkeit der Energieproduktion, bei eineiigen Zwillingen ähnlich und sie weisen das gleiche Risiko für genetisch bedingte Krankheiten wie Diabetes oder Depression auf.  

Wie aber erklären sich die Unterschiede? Spielt womöglich das zunehmende Alter eine Rolle? Diese Frage beschäftigt mich. 

Bei der Recherche stosse ich auf ein Fachwort: epigenetische Unterschiede. Epigenetische Prozesse bestimmen den Aktivitätszustand von Genen. In der Zelle passiert etwa Folgendes: Bei der Herstellung von Proteinen müssen unsere genetischen Informationen kopiert werden. Diese Informationen (Chromatin) sehen wie eine längliche Kette aus, dazwischen gibt es Ansammlungen von Proteinen (Histone). Ob ein Gen abgelesen werden kann und somit aktiv ist, hängt vom Abstand zwischen den einzelnen Histonansammlungen in der Kette ab. Ist dieser Abstand gross genug, kann unser Gen kopiert werden. Chemische Vorgänge können den Abstand zwischen den Ansammlungen verkürzen. Dadurch sind die Geninformationen nicht mehr ablesbar und inaktiv. Epigenetische Veränderungen werden meist aufgrund des Lebensstils, der Ernährung oder durch die Umwelt verursacht. Das erklärt die Unterschiede, von denen Ben und Tim berichten: Je älter die Zwillinge werden, desto mehr epigenetische Veränderungen treten auf. Die unterschiedliche Reaktion auf Pollen von Tim und Ben ist ein Beispiel für eine solche epigenetische Veränderung. 

Um die Wirkung solcher epigenetischen Prozesse auf den Menschen besser zu verstehen, treffe ich mich mit einer erwachsenen Zwillingsschwester. Zusammen mit Stella, meiner Klassenkameradin, gehe ich an einem Montagmorgen den Hügel zur Kantonsschule Hohe Promenade hoch, dort unterrichtet Frau Ruh Physik. Lächelnd kommt Frau Ruh auf uns zu und begrüsst uns herzlich. Zusammen gehen wir in ihr Vorbereitungszimmer.  

Ich frage Frau Ruh, ob sie und ihre Zwillingsschwester im Alter immer noch so häufig verwechselt werden wie als Kinder. Für Aussenstehende sei es noch immer sehr schwierig, sie zu unterscheiden, meint Frau Ruh. Wahrscheinlich bemerken wir als Aussenstehende nur die groben Unterschiede, weshalb wir Zwillinge auch als Erwachsene noch oft verwechseln. Nur wer die beiden gut kennt, sieht auch kleinere Unterschiede. Wie schon die beiden Brüder, frage ich auch Frau Ruh nach ihren Interessen. Nach kurzem Überlegen meint sie: «Die Berufe, die wir zwei gewählt haben, sind sehr ähnlich. Wir haben am Gymnasium auch den gleichen Typus gewählt. Ich habe Physik studiert und meine Schwester Elektrotechnik. Und was Hobbys anbelangt: Also meine Schwester spielt Flöte und ich spiele Klavier. Wir haben beide als Kinder gerne gemalt, jetzt als Erwachsene haben wir weniger Zeit. Wir singen jedoch beide in einem Chor.» Später fährt sie fort: «Es ist auch schon vorgekommen, dass wir im gleichen Pulli zu einem Anlass gekommen sind. Wir beide haben ihn unabhängig voneinander gekauft und nicht gewusst, dass die andere denselben hat. Beim Chor ist uns das auch passiert, nur die Farbe war vorgeschrieben, aber wir haben die gleiche Bluse gekauft», erzählt uns Frau Ruh vergnügt. 

Nach dieser Geschichte bin ich recht überzeugt, dass Frau Ruh eine sehr gute Beziehung zu ihrer Schwester haben muss, und ich frage sie, wie sie es findet, eine Zwillingsschwester zu haben. «Super!», meint Frau Ruh entschlossen. 

Zumindest äusserlich, aber auch was ihren Geschmack und ihre Interessen betrifft, haben sich Frau Ruh und ihre Schwester im Laufe der Zeit offenbar nicht stark auseinanderentwickelt. Ich frage deshalb bei einem Experten nach, was es mit der Epigenetik auf sich hat. In einem Telefongespräch mit dem Kinderpsychiater Thomas Schnyder berichtet mir der Fachmann, dass es tatsächlich ähnliche Persönlichkeiten und Interessen bei Zwillingen gebe. Laut Schnyder sind Erklärungen für ähnliche Persönlichkeiten aber hypothetisch und die Epigenetik ist ein möglicher Faktor für die Unterschiede. Er erwähnt auch, dass Zwillinge von klein auf miteinander kommunizieren und zusammenleben. Dadurch entwickeln sie ähnliche Persönlichkeitsmerkmale und haben eine sehr enge Bindung zueinander. Er erzählt mir von seinen Erlebnissen und lustigen Verwechselungen mit Zwillingen und noch viele weitere interessante Fakten. Zum Schluss meint er, dass es Eltern gebe, die sich wünschen, dass ihre Kinder möglichst unterschiedliche Persönlichkeiten entwickeln und sie ihre Zwillinge deshalb in verschiedene Schulen schicken. Aber meistens gelinge dies nicht. 

Für mich steht fest: Eineiige Zwillinge sind genetisch und äusserlich vielleicht eine Kopie voneinander, innerlich können sie sich aber durchaus unterscheiden. 


Jiefu Liu ist Schüler der Klasse 3i und Teil der Redaktion LGazette. 
Foto: Elisabeth und Monika Ruh