Gespräch

Gesunde Schritte

Von Berit Flachsmann, Cathrine Gisler und Luzia Gabathuler

 

 

Prokrastination, Stress, Leistungsdruck und das Gefühl, an seine eigenen Grenzen zu stossen, sind Themen, die viele Schüler:innen kennen. Wir haben uns darüber mit dem Schulsozialarbeiter Lucas Arquint unterhalten.

 

Catherine: Ich habe diesen Freitag eine grosse Geschichtsprüfung. Ich hätte die ganze Woche Zeit gehabt zu lernen, aber ich habe es immer weiter prokrastiniert, da ich bereits erschöpft von der letzten Woche war und einfach keine Energie mehr hatte. Ich glaube, das Gefühl, an seine Grenzen zu stossen, kennen viele und deshalb ist meine erste Frage: Wie kann man mit diesem Stress umgehen? Gibt es Methoden, mit denen man lernen kann, nicht mehr zu prokrastinieren?

 

Das habe ich mir vorgenommen, ich mache heute aber nur 50 % davon. 

 

Herr Arquint: Also das Erste: Planen. Zuerst geht es darum, sich darüber bewusst zu werden, was man überhaupt alles an Aufgaben erledigen sollte, und dann dort eine Priorisierung vorzunehmen. Und das Zweite, das ganz wichtig ist: Ablenkungen vermeiden. Da kann man auch den Eltern und Geschwistern sagen, dass sie einen eine Stunde lang nicht stören sollen, weil man konzentriert lernen muss. Ganz oft ist es so, dass man weiss, was man lernen muss, und man nimmt sich vor: Heute Abend mache ich das und das. Hier gibt es einen Trick, den ich gerne auch in der Beratung erkläre, die 50-Prozent-Regel. Menschen überschätzen sich sehr oft, das ist ganz natürlich. Wir denken, diese Aufgabe in einer Stunde erledigt zu haben. Sehr oft dauert es dann länger als diese Stunde. Und was passiert dann mit uns? Wir werden frustriert. Es kommen Stressgefühle auf. Oh, jetzt bin ich immer noch nicht fertig…! Darum kann es sich lohnen zu sagen, das habe ich mir vorgenommen, ich mache heute aber nur 50 % davon. 

Catherine: Sie haben geraten, den Eltern und auch vielleicht Geschwistern zu sagen, dass man jetzt lernen muss und deshalb nicht gestört werden will. Bei vielen Kindern und Jugendlichen sind aber auch die Eltern ein grosser Faktor für den Leistungsdruck. Wie kann man damit umgehen? 

Herr Arquint: Sprich an, dass du Druck spürst. Dann lohnt es sich, nachzufragen, ob diese Person, sei das eine Lehrperson oder seien das die Eltern, bewusst Druck ausübt. Es kann sein, dass einer Lehrperson oder auch einem Elternteil gar nicht klar ist, dass du etwas als Druck wahrnimmst. Vielleicht kannst du auch fragen, welche Motive hat jetzt meine Mutter/mein Vater, dass er/sie hier jetzt Druck ausübt?

 

Sehr oft, wenn man auf eine Prüfung lernen sollte, sieht man den grossen Berg. 

 

Berit: Oftmals passiert es, dass man sich selbst enormen Druck auferlegt und deshalb nicht einmal mit dem Lernen beginnen kann. Die Fülle an Aufgaben, die erledigt werden sollten, kann überwältigend sein, und der grösste Druck entsteht in der Regel aus dem eigenen Inneren. Wie lässt sich dieser Druck reduzieren? 

Herr Arquint: Sehr oft, wenn man auf eine Prüfung lernen sollte, sieht man den grossen Berg. Man steht dann vielleicht unten in der Talstation und denkt sich: Okay, da muss ich hoch in einer sehr kurzen Zeit, denn die Prüfung ist in zwei Tagen und ich habe noch nichts gemacht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilft, eine grosse Aufgabe in zehn kleine Aufgaben zu teilen und dann möglichst jeden Tag einfach einen kleinen Teil zu machen. Dann ist dieser Berg nicht mehr so hoch. Dann weiss ich: Heute habe ich die Etappe bis zum ersten Restaurant und dort kann ich mich einen Moment ausruhen. Wenn ich das geschafft habe, dann geht es weiter und ich weiss, dass ich mir überlegt habe, wie es funktioniert, und ich komme so zum Ziel, ohne dass ich erschöpft bin. Mit dieser Strategie kann man Druck rausnehmen.

Catherine: Häufig sehe oder merke ich auch, dass meine Kolleg:innen sehr gestresst sind oder von sich selbst zu viel erwarten. Ich habe das Gefühl, wenn man Mitschüler:innen einfach sagt, dass man sie unterstützt, hilft das schon sehr. Wenn ich bemerke, dass es zu viel wird für meine Mitschüler:innen, sollte ich zu der Person hingehen und mit ihr darüber sprechen, wie sie sich fühlt. Oder kann ich zu Ihnen kommen und fragen, was ich machen sollte? 

Herr Arquint: Es ist beides möglich. Ich finde grundsätzlich, nur nichts zu tun ist falsch. Du kannst bei der Person nachfragen, wie es ihr geht, dort lohnt es sich, einen guten Moment abzuwarten. Also nicht, wenn die ganze Klasse zuhört, damit sich die Mitschüler:in traut, ehrlich zu antworten. Und wenn du dich nicht traust, das anzusprechen, dann wende dich an die Lehrperson deines Vertrauens oder nimm mit der Schulsozialarbeit Kontakt auf. Aber das Wichtigste ist wirklich: Das Ansprechen. Damit diese Person merkt: Hey, ich werde gesehen und Menschen um mich herum nehmen wahr, dass ich gestresst bin oder dass es mir nicht gut geht.

 

Nur nichts zu tun ist falsch.

 

Catherine: Es gibt Lehrpersonen, die sich mehr auf das Wohlbefinden der Schüler:innen achten und solche, die das weniger tun. Wenn man Prüfungen zurückbekommt, habe ich einmal erlebt, dass eine Lehrperson gefragt wurde, wer die schlechteste Note hat, und dass sie es einfach in die Klasse gesagt hat. Das ist für einen nicht lustig, weil man sich extrem schlecht fühlen kann. Wie kann man mit solchen Lehrpersonen und den Gefühlen, die aus solchen Situationen entstehen, umgehen?

Herr Arquint: Was wäre eure erste Reaktion, wenn es euch betreffen würde? 

Luzia: Ich wäre wütend, verletzt und auch ein bisschen beschämt. 

Herr Arquint: Scham und Wut sind starke Gefühle. Hinter jedem Gefühl, das wir Menschen haben, steckt ein Bedürfnis, das erfüllt oder nicht erfüllt ist. Was könnte es bei Scham sein? 

Berit: Man möchte respektiert werden und möchte nicht alles von sich selbst preisgeben. Und dass die Lehrperson Persönliches nicht einfach weitersagt, sondern dass man das Recht darauf hat, dass nur man selbst und die Lehrperson das weiss. 

Herr Arquint: Auch bei Wut: Ich bin empört darüber, dass meine persönliche Integrität in dieser Situation verletzt wurde, und das löst in mir Wut aus – da lohnt es sich zu reagieren.

 

Hinter jedem Gefühl, das wir Menschen haben, steckt ein Bedürfnis, das erfüllt oder nicht erfüllt ist.

 

Catherine: Sie haben das Wort Integrität erwähnt. Können Sie das genauer erklären? 

Herr Arquint: Persönliche Integrität  heisst für mich eine Unversehrtheit, worauf jede Person ein Recht hat. Es gibt körperliche Integrität, dass ich über meinen Körper selbst verfügen kann und entscheiden kann, wer mir wie nahekommt und was mit mir passiert. Aber es gibt auch seelische Integrität, dass ich vor Angriffen und Beleidigungen anderer Personen geschützt werde. 

Berit: Integrität ist ja vor allem im Zusammenleben mit anderen Menschen wichtig. Wie kann man seine eigene Integrität schützen und diese Grenzen selbst gesund vertreten? 

Herr Arquint: Ich glaube, es lohnt sich, zuerst bei sich anzufangen und zu schauen, wo sind meine Grenzen? Sei das im körperlichen Kontakt, wie auch in seelischen Sachen. Sich darüber klar zu werden, wo ich Grenzen ziehen will, wo ich Grenzen brauche. Grenzen haben sehr oft auch etwas mit Macht zu tun. Manchmal ziehe ich Grenzen woanders als andere Personen, die vielleicht im Machtgefüge höher sind als ich, darum kann das manchmal auch schwierig sein. 

Catherine: Wenn ich mit einer Lehrperson darüber reden möchte, wie es mir geht, würde ich wahrscheinlich nicht die Einzige sein, die das nicht macht, weil Lehrpersonen viel Einfluss auf meine Noten haben.  

Herr Arquint: In der Sozialen Arbeit redet man in diesem Kontext von einer Positions- oder Organisationsmacht, die diese Person im Moment hat. Lehrpersonen werden euch benoten und beurteilen. Meine Erfahrung ist aber, dass sich die Lehrpersonen dieser Machtposition sehr bewusst sind. Wenn du um das Gespräch bittest und es anständig führst, bin ich ziemlich sicher, dass die Lehrpersonen gut darauf reagieren und dir zuhören werden. Ob sie dir recht geben, das ist die andere Frage. So ein Gespräch kann man auf verschiedene Arten führen und es ist sinnvoll, sich jeweils gut vorzubereiten. Wenn es ein Zwischenfall ist, der dich  stark belastet, lohnt es sich, das vielleicht mit den Eltern gemeinsam vorzubereiten.

 

Ich bleibe mir selbst gegenüber treu und fresse nichts in mich hinein.

 

Catherine: Jetzt wo ich es mir überlege, macht es schon Sinn, dass die Lehrpersonen einem grundsätzlich nichts Böses tun wollen, auch wenn man diesen Eindruck hat. Schlussendlich geht es auch darum, ob ich mir etwas Gutes tun will, indem ich der Lehrperson sage, wie ich mich gefühlt habe, oder ob ich es einfach stehen lasse und weiterhin schlecht behandelt werde. 

Herr Arquint: Genau, das ist ja das Wichtige bei Gesprächen, bei denen es um Grenzverletzungen geht. Ob die andere Person dann in Zukunft diese Grenzverletzungen unterlässt, das liegt oft nicht in unserer Macht, aber ich habe dann die Grenze benannt. Damit habe ich meinen Teil erfüllt. Die andere Person muss dann damit machen, was sie will oder was sie kann. 

Luzia: Sie haben gesagt, man soll «Grenzen benennen». Gibt es bestimmte Sachen, die ich machen oder sagen kann, damit die andere Person nicht sofort verletzt wird und alles abstreitet? 

Herr Arquint: Die gibt es tatsächlich. Die Methode, die ich für alle solche Gespräche empfehle, heisst «gewaltfreie Kommunikation». Sie fängt damit an, dass ich als erstes meine Beobachtungen teile, also beschreibe, was ich wahrgenommen habe, nicht was die andere Person gemacht hat. Als zweites sage ich, wie ich mich dabei gefühlt habe. Zu erklären, warum ich mich so gefühlt habe, ist dann der dritte Schritt. Dort geht es darum, dass ich erkunde, was meine Bedürfnisse waren, die vielleicht verletzt wurden, oder was ich mir vielleicht anders gewünscht hätte. Und als viertes: eine klare Bitte aussprechen. 

Berit: Aber wenn das immer so funktionieren würde, dann gäbe es ja fast keinen Streit oder zumindest nur «gesunden» Streit. Aber uns allen ist leider bewusst, dass es eben nicht immer so funktioniert. Wenn jetzt jemand extrem offensiv zu mir kommt und irgendwie sagt: «Du hast das und das und das falsch gemacht», wie reagiere ich dann am besten? 

Herr Arquint: Wenn ich sofort emotional werde und anfange, mich zu verteidigen, würde das Gespräch nicht gut verlaufen. Aber wenn jetzt jemand zu mir kommt und sagt: Hey, das habe ich beobachtet. Dann kann schon ein erstes Korrektiv von mir stattfinden: Es tut mir leid, dass du das so wahrgenommen hast. Dann kann es schon sein, dass sich der Konflikt auflöst, bevor die nächsten Schritte im Gespräch überhaupt stattfinden müssen. Ich weiss, dass dies ein idealtypischer Verlauf ist, aber selbst im Alltag kann man das einüben: Ich bleibe mir selbst gegenüber treu und fresse nichts in mich hinein. Ich nehme Konflikte am Abend nicht mit ins Bett oder in die Ferien, sondern ich spreche Sachen an, die mich stören. 

Berit: Zusammengefasst könnte man also sagen, Ansprechen wäre die beste Lösung? 

Herr Arquint: Ja, Ansprechen. Dabei kann es natürlich unangenehm sein, wenn ich etwas anspreche oder wenn ich sogar eine Grenze ziehe. Dann hilft es, dieses «Grenzenziehen» zu begründen, damit die andere Person es auch verstehen kann.  Ganz wichtig ist auch, nicht zu vergessen, dass ich nicht verantwortlich bin, dafür, wie die andere Person mit den daraus entstandenen Gefühlen umgeht. Das zu regulieren, ist nicht meine Aufgabe. 

 


Berit Flachsmann, Cathrine Gisler, Luzia Gabathuler sind Schülerinnen der Klasse 4i und Teil der Redaktion LGazette (SJ 23/24). 

Illustration: Valentina Nina Alder (1i SJ 23/24)

Foto: Delia Schiltknecht