RETROSPEKTIVE

FRAUEN AM LG

Das LG als Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen

 

Von Renée Müller-Weibel und Kerstin Peter

 

Das Foto oben wurde 1983 als „Momentaufnahme“ in der Broschüre 150 Jahre Kantonsschule Zürich – Literargymnasium Rämibühl publiziert. Es zeigt die damaligen Hauptlehrerinnen und Hauptlehrer des LG. Was fällt auf?

Genau: Zu sehen sind 35 Männer und 5 Frauen.

Dies war unser Ausgangspunkt für einige Nachforschungen und Überlegungen zum Thema Frauen am LG.

 

Zwei Jubiläen?

2022 feiert das LG sein 75-jähriges Jubiläum! Bereits 1983 wurde zum „150-Jahre-Jubiläum“ eine Festschrift herausgebracht. Das ist durchaus merkwürdig, lässt sich aber erklären.
1833 wurde die Kantonsschule Zürich als erste Zürcher Mittelschule gegründet. An der Rämistrasse 59 (ehemals PH, heute Institut der Universität Zürich) wurden ausschliesslich Griechisch-Klassen unterrichtet.
Wachsende Schülerzahlen führten 1947 dann zu einer Teilung in Realgymnasium und Literargymnasium. Während das Realgymnasium in der Alten Kantonsschule verblieb, zog das Literargymnasium Zürichberg auf die andere Strassenseite in den Schanzenberg um, ein ehemaliges Privathaus (heute: Institut der Universität Zürich).
1970 richtete man sich in der neuen Schulanlage an der Rämistrasse 56 ein, die das Literargymnasium Rämibühl noch heute – bis zum Umzug 2026/27 – beherbergt beziehungsweise beherbergen wird. Den 1959 ausgeschriebenen Planungswettbewerb für eine Kantonsschule auf dem Rämibühl-Areal gewann das Projekt von Eduard Neuenschwander mit seinem „wohltuenden Wechsel von strenger und freier Gestaltung der Bauten“, der „glücklichen Einbeziehung der Parkanlagen“ und „der schönen Orientierung fast sämtlicher Unterrichtsräume gegen den Park“.  Als wichtiger Zeitzeuge für die damaligen Betonbauten, inspiriert v. a. von der organischen Formensprache der skandinavischen Moderne (Alvar Aalto), bleibt das Gebäude auch für heutige Architekturstudenten wichtiges Anschauungsobjekt.

 

Die „verwickelte Seelenlage der Mädchen“ wird zum Thema…

Bis 1975 waren alle Zürcher Kantonsschulen reine Knabenschulen. Gymnasiastinnen besuchten bis dahin ausschliesslich die Töchterschule Zürich (Hohe Promenade). Auf das Schuljahr 1976/77 wurde die Koedukation eingeführt und auch das LG nahm im Frühjahr 1976 neben 56 Knaben neu auch 44 Mädchen auf. An der Maturfeier 1982/83 konnte das Reifezeugnis erstmals „25 ‚Damen‘ und 33 ‚Herren‘ ausgehändigt werden“. Rektor Voser kontrastierte alte Rollenmuster und sagte: „Es waren und sind die Mädchen, die Farbe und Heiterkeit in unsere etwas graue Betonburg eingebracht haben und mit ihrer Spontaneität ein aufhellendes Element in unserem Schulalltag geworden sind. Ihre frische und lebhafte Präsenz macht uns bewusst, was uns bisher gefehlt hat. Dass die Begabung und die Leistung beider Geschlechter auf gleicher Stufe stehen, braucht selbstverständlich nicht besonders betont zu werden. Frauen und Männer haben nicht nur ‚gleiche Rechte‘, sondern im Blick auf ihre geistigen Möglichkeiten auch dieselben Voraussetzungen. Vereinfacht hat die Koedukation allerdings unsere Aufgabe nicht. Phasenverschiebungen in der Entwicklung von Schülerinnen und Schülern stellen die Lehrerschaft vor mancherlei psychologische Probleme. Auch fällt es uns zuweilen nicht leicht, auf die verwickelte Seelenlage der Mädchen einzugehen.“
Diese damals fortschrittlich-emanzipatorische Aussage würde heute wohl einen Shitstorm verursachen! Relativ schnell pendelte sich in den Folgejahren das Verhältnis von Jungen und Mädchen in der Gesamtschülerzahl auf ein einigermassen ausgeglichenes Verhältnis ein. Nach der 2. Klasse waren bzw. sind die Mädchen jeweils leicht in. Aktuell besuchen insgesamt 355 Knaben und 350 Mädchen unsere Schule; in den 3.–6. Klassen sind es 179 Knaben und 217 Mädchen.

Die „charmante Hilfslehrerin“ steigt auf

Als erste Hauptlehrerin wurde aufs Schuljahr 1970/71 Fräulein Dr. Martha Schavernoch ins Kollegium des Literargymnasiums aufgenommen. Wie man in der Festschrift nachlesen kann, wirkte sie „seit 1969 […] als Hilfslehrerin für Alte Sprachen am Literar- und Realgymnasium Zürichberg. Fräulein Dr. Schavernoch hat sich vorzüglich in die Welt der schweizerischen Mittelschulen eingelebt und bringt in den Unterricht der Alten Sprachen am Literargymnasium als Vertreterin der Wiener Schule eine neue Note.“
Als zweite Frau wurde 1973/74 „Fräulein“ Ursula Kuttner zur Hauptlehrerin gewählt: „Am Literargymnasium Zürichberg kennen sie Schüler und Lehrer seit 1970 als beliebte und charmante Hilfslehrerin.“
Die Beförderung von Martha Schavernoch und Ursula Kuttner will dabei einiges heissen. Denn 1970 war die Lehrerschaft eine Zweiklassengesellschaft: Hauptlehrer waren vom Regierungsrat gewählte Beamte und hatten in der Regel ein 100%-Pensum. Hilfslehrer wurden nur semesterweise angestellt und unterrichteten lediglich einzelne Stunden, oft an verschiedenen Schulen.
Weil Hauptlehrer für den Staat teuer waren und man – fälschlicherweise – mit einem Rückgang der Schülerzahlen rechnete, bewilligten die Behörden im Laufe der 80er- und 90er-Jahre immer weniger neue Hauptlehrerstellen. Pensionierte Hauptlehrer wurden oft durch Hilfslehrer ersetzt, die ab 1980 zwar Lehrbeauftragte hiessen, aber weiterhin semesterweise angestellt wurden. 1995/96 standen 34 Hauptlehrpersonen 49 Lehrbeauftragte gegenüber; zunehmend wurde in Teilpensen unterrichtet. 1983 waren es noch 40 Hauptlehrpersonen und 57 Lehrbeauftragte gewesen.

Zäsur 2000

Die Jahre um 2000 stellten in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur dar:
Gemäss dem neuen Mittelschulgesetz wurde der Beamtenstatus des Hauptlehrers (und der Titel „Professor“) abgeschafft. Auf Beginn des Schuljahres 2000/2001 erhielten alle – nach wie vor nur – fünf Hauptlehrerinnen und 21 Hauptlehrer den Status einer Lehrperson „mit besonderen Aufgaben“ (mbA).
Rektor Hans Ulrich Lappert schrieb im Jahresbericht 2000/2001: „Der Beruf des Gymnasiallehrers hat in den letzten Jahren stark an Ansehen eingebüsst. Es ist dies nicht nur eine Frage der Besoldung, wichtiger erscheint mir die Anerkennung in der Gesellschaft.“   
1972 hatte das Durchschnittsalter des eher jungen Lehrkörpers 41 Jahre betragen. Somit kam es in den Jahren um 2000 zu einer grossen Pensionierungswelle – und entsprechend zu einer grossen „Erneuerung“ des Kollegiums.
Nahm der Anteil von Lehrerinnen bis 1996/97 zwar stark zu, war aber auf Lehraufträge in den sprachlichen Fächern beschränkt, stiegen in den folgenden 10 Jahren die Festanstellungen von Frauen im gesamten Fächerspektrum. 2007/08 wurden 42 % aller Lektionen von Lehrerinnen unterrichtet. 2015 hielten die Frauen erstmals in die Schulleitung Einzug.
Der Frauenanteil im Lehrerberuf steigt weiter. Aktuell unterrichten 61 Frauen und 47 Männer am LG, hauptsächlich in Teilpensen. In der Schulleitung bilden Frauen nun ebenfalls die Mehrheit.
Das Verhältnis von Lehraufträgen und Festanstellungen hat sich aufgrund neuer gesetzlicher Vorgaben mittlerweile stark verändert: Aktuell stehen ungefähr einem Drittel Lehrbeauftragten zwei Drittel Festanstellungen gegenüber.


Renée Müller-Weibel unterrichtete am LG von 1982 bis 2021 Geschichte und Englisch. Sie ist zum Ende des letzten Schuljahres in den Ruhestand getreten.
Kerstin Peter unterrichtet am LG Deutsch und Geschichte. Sie war selber Schülerin am Literargymnasium.

Die Autorinnen lernten sich 1984 in der Klasse 1b kennen.
Bilder: Archiv LG Rämibühl
Illustration: Chiara Spormann (5a)

Quellen
  • Clavuot, Ottavio: Die Kantonsschule Rämibühl in Zürich.  
  • LG-Jahresberichte: 1970/71; 1973/74; 1975/76; 1976/77; 1982/83 und 2000/2001.
  • Meyer, Helmut u. a. (Hg.): 50 Jahre Literargymnasium Schanzenberg/Rämibühl 1947–1997, 1997.
  • Meyer, Helmut u. a. (Hg.): Literargymnasium Rämibühl Zürich 1997–2007, 2009.
  • Literargymnasium Rämibühl: Momentaufnahme 1983. 150 Jahre Kantonsschule Zürich.