Schlusswort

Fragmente wiederentdecken

von Christine Feller

 

Einen abgeschlossenen Text für die LGazette zum Thema «Fragmente» zu schreiben, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Es ist vielmehr eine Möglichkeit, offen über genuin Unabgeschlossenes nachzudenken und in der Auseinandersetzung mit dem Fragment Grundlegendes für den Umgang mit der Wahrheit im digitalen Zeitalter zu erkennen. Denn Fragmente begegnen uns mittlerweile täglich in Form von retuschierten Bildern, reisserischen Schlagzeilen, nicht sicher bestätigten Nachrichten, aus dem Kontext gerissenen Posts. Häufig erkennen wir sie gar nicht als solche, weil sie als Tatsachen inszeniert werden, obschon sie eigentlich nur ein Bruchstück davon zeigen, was wirklich ist.

Das Fragment wird durch das nicht mehr Vorhandene, nicht Überlieferte oder Verlorengegangene als solches bestimmt. Seine ausgestellte Bruchstückhaftigkeit bietet seinen Betrachter:innen immer wieder aufs Neue die Möglichkeit, es versuchsweise zu einem Ganzen zu machen. Abschliessend vollenden lässt sich das Fragment aber gerade nicht, da die fehlenden Elemente per definitionem nicht verfügbar sind. Das Fragment fordert uns folglich dazu auf, in der Auseinandersetzung mit ihm seine Unvollständigkeit auszuhalten. Herausfordernd wird der Umgang mit Fragmenten dann, wenn sie nicht als solche erkannt und ihre Bruchstellen verkannt werden. In der digitalisierten Welt geschieht das immer häufiger.

Wir sind uns gewohnt, vermeintlich eindeutige Informationen zum Weltgeschehen in Echtzeit digital abzurufen, Bescheid zu wissen, was geschieht und wie diese Ereignisse einzuordnen sind. Gleichzeitig diffundieren die Informationskanäle, fransen aus, sodass Medien- konsumierende immer häufiger selbst zu Akteuren werden und die mediale Realität mitgestalten. Immer häufiger, immer schneller wird das Weltgeschehen auf 280 Zeichen, Bilder, 60-Sekunden-Storys oder Videos reduziert und mit dem eigenen Netzwerk geteilt und dort weiter geteilt und geteilt, immer weiter. Immer wieder wird dabei übersehen, dass die Informationen unvollständig, einseitig oder gar fehlerhaft sind und Bruchstücke als Ganzes ausgegeben werden. So haben wir es insbesondere in den letzten Monaten mit den Informationen zum Konflikt im Nahen Osten erlebt. Als Beispiel sei hier auf das Video einer Pro-Palästina-Kundgebung am Stauffacher in Zürich verwiesen. Besagtes Video zeige laut Newsportalen und Blogs Hamas-Unterstützende, die den Angriff der radikalislamischen Hamas vom 7. Oktober 2023 auf Israel feierten. Das Video wurde unter diesen Vorzeichen mehrfach geteilt und auf sozialen Medien über 1 Million Mal aufgerufen, bevor SRF Investigativ mittels Berechnung des Schattenwurfs im Video aufzeigen konnte, dass die Aufnahme zwar aus Zürich stammt und echt ist, aber im Frühsommer entstanden sein muss; dass die Aufnahme also aus dem Zusammenhang gerissen und neu kontextualisiert zur Falschmeldung geworden war.

Auf der Suche nach korrekten Informationen tragen wir Medienkonsument:innen die Verantwortung für korrekte Informationen je länger je mehr mit. Einerseits indem wir Informationen mit Vorsicht geniessen und der Wahrheit die Zeit geben, die sie braucht, um ans Licht und damit in die Informationskanäle zu gelangen. Andererseits indem wir sorgsam prüfen, was wir selbst (mit-)teilen. Und weil ich diese Überlegungen in der LGazette anstelle, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Rolle die Schule im Umgang mit dieser Entwicklung spielen kann.

Die Deutsch- und Philosophielehrerin in mir macht hier den Schritt zurück zum Fragment in der Literatur oder noch grundsätzlicher und auch weniger augenfällig zum literarischen Text und damit verbunden zu den Kompetenzen, die im Unterricht geübt werden.

Neben Büchners «Woyzeck» oder Texten von Kafka stehen im Deutschunterricht zwar mehrheitlich abgeschlossene und autorisierte Texte zur Diskussion. Doch dank Leerstellen und Unentscheidbarkeiten, wie sie guter Literatur eigen sind, laden literarische Texte die Lesenden subtiler dazu ein, zu zögern, zu ergänzen, zu hinterfragen und zu rekonstruieren – also beim Lesen genau das zu tun, was das Fragment plakativ einfordert. Auch die Quellenarbeit und die Auseinandersetzung mit theoretischen Texten ermöglichen es, ja fordern es ein und uns dazu auf, immer wieder aufs Neue Zugänge zu früheren Erfahrungswelten zu finden, die manchmal nahe liegen, dann wieder befremden, überraschen und zu diskutieren geben. Die offene und neugierige Auseinandersetzung mit Texten ist es, die uns den Zugang zur Welt verschafft, zur vergangenen genauso, wie zur gegenwärtigen, in der wir leben und uns zurechtfinden müssen.

Gemäss dem aktuellen bildungspolitischen Diskurs sind solche basalen und überfachlichen Kompetenzen folgerichtig erforderlich, um auf die anspruchsvollen Aufgaben in der Gesellschaft und für ein Hochschulstudium gerüstet zu sein. Zu Recht braucht es im digitalen Zeitalter, in welchem Zeit und Raum kondensiert werden und alles und jede:r immer und überall verfügbar sein kann, andere Kompetenzen als in einer analogen Welt. Dazu gehört auch der Umgang mit Digitalität, wobei die dafür notwendigen Kompetenzen (mit Daten und Informationen umgehen, Verfahren der Automatisierung verstehen und anwenden, mit Modellen komplexe Sachverhalte analysieren, Kommunikation und Kollaboration gestalten) letztlich auf basalen Kompetenzen gründen – auf dem Umgang mit Texten zum Beispiel.

Was hat das mit dem Fragment oder allgemeiner mit den zuvor erwähnten Leerstellen zu tun? Gerade heute bedarf es des Bewusstseins, dass Texte in unserem Alltag oft zu wenige Leerstellen haben, dort wo sie notwendig wären. Wir benötigen ein Bewusstsein dafür, dass Teile als Ganzes ausgegeben und Unentscheidbarkeiten nivelliert werden. Es wird über Geschehnisse berichtet, ohne dass für den sorgfältigen Faktencheck und Beiziehen von mindestens zwei Quellen genug Zeit bliebe – und dies nicht nur auf jenen Kanälen, die sich den journalistischen Grundprinzipien nicht verpflichtet fühlen. Es wird Klarheit suggeriert, wo Unklarheit herrscht und nur Bruchstücke verfügbar sind.

Dass der unsorgfältige Umgang mit Wahrheiten problematisch ist, ja sogar die «faktische Wirklichkeit» bedrohe, schrieb Hannah Arendt bereits 1967 (deutsch 1972) in Ihrem Essay «Wahrheit und Politik». In der heutigen Welt seien nicht mehr die Vernunftwahrheiten bedroht, sondern die Tatsachenwahrheiten. Öffentlich bekannte Tatsachen würden vermehrt durch Interessensgruppen bekämpft, geleugnet oder getilgt, um politische Macht zu erlangen oder zu sichern. Als besonders bedrohlich stufte Arendt die Degradierung von Tatsachenwahrheiten zu Meinungen ein. Wo immer in der «freien Welt» unliebsame Tatsachen diskutiert würden, könne man beobachten, dass Feststellungen nur deshalb toleriert würden, weil Meinungsfreiheit ein Grundrecht sei. Unbequeme geschichtliche Tatbestände würden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne.

Ein Phänomen, für das wir auch heute schnell Beispiele finden. Man denke an den Mythos der gestohlenen Präsidentschaftswahl, der sich nach Trumps Niederlage 2020 in den konservativen Medien verbreitete, im Januar 2021 zum Sturm auf das Capitol führte und sich in gewissen Kreisen bis heute hartnäckig als Tatsache hält.

Die Verwandlung von Tatsachenwahrheiten in Meinungen führe dazu, so Arendts Warnung, dass die «faktische Wirklichkeit» auf dem Spiel stehe. das Heute, knapp 70 Jahre später, hat Arendts Warnung nichts an Dringlichkeit verloren – im Gegenteil. Heute werden sowohl Tatsachen zu Meinungen als auch Meinungen zu Tatsachen und dank neuer Technologien innert Sekunden in die freie Welt geschickt, sodass die faktische Wirklichkeit unterhöhlt oder überspült wird und damit gleich doppelt auf dem Spiel steht.

Wie aber können wir dieser Entwicklung begegnen und ihr aktiv entgegenwirken? Eine mögliche Antwort könnte sein, dass der heutigen Informationsflut und ständigen Verfügbarkeit von vermeintlichen Wahrheiten das Unfertige und im Werden Begriffene entgegenzuhalten sei. Das ist keine neue Idee. Bereits in der Antike hat Sokrates von seinen Gesprächspartnern eingefordert, nicht vorschnell Teile für das Ganze auszugeben und die Idee des Guten kleinteilig zu verkaufen. Und auch das Fragment wurde bereits vor 200 Jahren sinnbildlich, aber auch als neue Textsorte genutzt, um starre Formen und festgeschriebene Wahrheiten aufzubrechen.

Im Unterschied zu bruchstückhaft überlieferten Texten aus längst vergangenen Zeiten wurden in der Frühromantik Fragmente eigens geschaffen. Friedrich Schlegel formulierte diese Umkehr im Athenäum-Fragment 24 so: «Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuen sind es gleich bei der Entstehung.»

In der Frühromantik entstand Unfertiges, um darin den Bruch mit den Konventionen darzustellen. Der offensichtliche Mangel an Ganzheit wurde im ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Sinnbild für den Zerfall von traditionellen Weltbildern und vermeintlich gesichertem Wissen, zugunsten eines offenen, neugierigen Umgangs damit. Im Gegensatz zur herkömmlichen Abhandlung im Zeitalter der Aufklärung bewegte sich das Fragment als frühromantische Textsorte lediglich auf die Wahrheit zu, versucht eine Annäherung und nicht, diese zu erreichen oder gar zu postulieren. Damit erfolgte eine Rückkehr zu einer Bescheidenheit im Umgang mit Wahrheit und Wissen, wie sie einst Sokrates von seinen Gesprächspartnern eingefordert hatte. Friedrich Schlegel schrieb 1793 an seinen Bruder August Wilhelm in ebendiesem Sinne: «Wer die Wahrheit liebt, soll nie wähnen, sie zu besitzen.» Ein Gedanke, der gerade im digitalen Zeitalter im Umgang mit Wissen und Neuigkeiten auf allen Kanälen nichts an Aktualität verloren hat. Wenn wir Bilder, Schlagzeilen, Nachrichten und Posts ab und zu als Fragment erkennen, besitzen wir die Wahrheit zwar gerade nicht, geben ihr aber die Chance, doch noch ans Licht zu kommen.
 


Dr. Christine Feller ist seit 2018 Prorektorin des Literargymnasiums. Sie unterrichtet die Fächer Deutsch und Philosophie.

Illustration: Paula Ita.