Essay
Fort ins Licht
Du liegst auf der Sonnenliege, fühlst dich warm und geborgen, die Vögel zwitschern, die Sonne scheint dir ins Gesicht, vielleicht denkst du an die Arbeit, Schule oder an zu Hause. Vielleicht hast du Hunger, überlegst dir, was es wohl zum Mittagessen gibt, womöglich Lasagne. Oder vielleicht hast du doch keinen Hunger mehr, die Sonne macht dich zu träge, du wirst müde. Du fragst dich, ob du das Mittagessen ausfallen lassen sollst, es ist so schön hier, du möchtest nur noch die Augen schliessen und ins Traumland driften…
Ein Gedanke drängt sich auf: Den ganzen Tag «Licht zu trinken» kann das Auslassen von Mahlzeiten kaum ausgleichen. Schade, eigentlich. Du betrachtest eine Pflanze, wie sie sich sonnt, ihre schönen grünen Blätter dem Himmel entgegenstreckt, als wolle sie die Sonne umarmen. Vollkommen unbehelligt vom Rest der Welt, in Frieden mit sich selbst. So gesehen wäre es gar nicht so verkehrt zu wünschen, eine Pflanze zu sein. Alles, was sie braucht, ist Licht. Vage erinnerst du dich an einen Zeitungsartikel, es ist schon lange her, doch dir fallen die Stichworte «Lichtnahrung» und «Versuche mit Fotosynthese bei Menschen» ein. Sich von Licht zu ernähren, das klingt doch verrückt. Oder genial? Du befindest dich immer noch auf deinem Liegestuhl. Die Sonne umhüllt dich wie eine zweite Decke. Es ist schon fast zwei Uhr nachmittags und du hast heute kaum gegessen. Trotzdem, du fühlst dich satt. Nur eine Feststellung, mehr nicht, aber sie zieht durch deinen ganzen Körper wie eine leichte Sommerbrise, bringt dich zum Schweben, verströmt dabei wohlige Wärme. Doch mit der Wärme mischt sich ein ungutes Gefühl. Du setzt dich auf. Das kann doch nicht sein, hier stimmt etwas nicht. Es kann nicht sein, dass du dich allein vom Sonnenlicht satt fühlst. Also tust du das, was jeder vernünftige Mensch in deiner Situation machen würde: Du gehst hinein und setzt dich an den Laptop.
«Vom Licht satt», gibst du ein. Die Suchmaschine spuckt vereinzelte Artikel aus, darunter einen Link zum Dokumentarfilm «Am Anfang war das Licht» des österreichischen Regisseurs Peter-Arthur Staubinger. Du liest einige Rezensionen, es ist offenbar ein sehr umstrittener Film. Du klickst ihn an.
Es geht um mehrere Protagonisten, die angeben, sich von «feinstofflicher Energie» zu ernähren. Staubinger reist durchs Land und spricht dabei mit Menschen, die sich nur von Licht zu ernähren scheinen. Der Film beschäftigt sich auch mit der Legende des «Niklaus von Flüe», einem Schweizer Einsiedler, der im fünfzehnten Jahrhundert gelebt hat und angeblich neunzehn Jahre lang keine materielle Ernährung, Wasser ausgeschlossen, zu sich genommen haben soll.
Du schliesst den Laptop. Du verstehst nicht, weshalb so eine starke Anziehung zur Idee besteht, sich von der Sonne zu ernähren.
Du blinzelst in die Sonne, die dir plötzlich nicht mehr so warm erscheint wie bisher. Nun ist sie fast kalt geworden, gefährlich. Fremd. Du fragst dich, ob das «Lichtessen» ein Schleier ist – ein Versuch, im Sonnenschein zu verschwinden, sich der Realität zu entziehen. Oder ist dieser Verzicht auf Nahrung ein radikaler Versuch, Kontrolle über den eigenen Körper und das Leben zu gewinnen?
Vielleicht bildet man sich nur ein, freiwillig zu verzichten, einfach, weil man es kann? Dabei ist «Lichtnahrung» keine besondere spirituelle Variante, kein harmloser Spleen. Es ist ein gefährlicher Irrglaube. Der Mensch kann nicht vom Licht leben. Der Körper braucht Nährstoffe, braucht Wasser, sonst stirbt er. Das zu ignorieren, ist nicht befreiend, sondern zerstörerisch.
Und trotzdem scheint das Konzept für manche mehr zu sein als blosser Verzicht. «Ich möchte frei sein von materieller Abhängigkeit», sagen sie. Sich lösen vom Konsum, vom Körper, von allem, was uns bindet, das ist der Wunsch. Es gehe nicht ums Nichtessen, sondern ums Sein. Um etwas Höheres, vielleicht sogar Reineres. Doch wo endet diese Suche nach Reinheit, und wo beginnt die Selbsttäuschung?
Vielleicht ist Lichtnahrung nicht einfach nur der Wunsch, ohne Essen zu leben, sondern der Versuch, Kontrolle zu erlangen. Über den eigenen Körper, über das Leben, über alles, was sich sonst nicht kontrollieren lässt. Vielleicht ist es ein Rückzug – hinein in etwas, das leichter ist als die Realität.
Ellen Greve beschreibt in einem Buch von 1989 drei Phasen der «Lichtnahrung». Sie behauptet, das funktioniere, was natürlich nicht stimmt: ein Mensch braucht mehr als Licht. Ist Selbstverantwortung nicht auch, zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen? Und welche Verantwortung hat man, wenn man solche Erfahrungen öffentlich teilt? Wie frei ist jemand, der nicht mehr spürt, wenn er hungert?
Vielleicht geht es gar nicht wirklich um Freiheit. Vielleicht ist es am Ende einfach die Suche nach Licht. Wenn das innere Licht versagt, wird wohl das äussere zur Versuchung. Man füllt sich mit nichts, fühlt sich voll. Und bleibt leer.
Ob noch Lasagne da ist?
Kommentar von Dr. Dominique Simon
Der Text «Fort ins Licht» von Vera Vuskovic bewegt sich zwischen Fiktion, Tagträumerei und solider Recherche zu einem gefährlichen Trend. Askese und Spiritualität sind grosse Themen der Menschheit… sich gedanklich in eine Pflanze hineinzufühlen, ist fantastisch und kreativ.
Aus medizinischer Sicht kann ich der Autorin aber nur beipflichten: Von der Umsetzung in die Tat ist dringlich abzuraten. Es sind brandgefährliche Experimente, dem Körper die Nahrung zu versagen – sie führen oft in lange und schwere Erkrankungen, aus denen man sich oft nur mit Mühe und mit professioneller Hilfe wieder befreien kann.
Viele meiner Essstörungspatientinnen haben als Start in die Erkrankung von einer Diät oder sogar einem Magen-Darm-Infekt berichtet, wobei sie eine Zeit lang weniger essen wollten oder konnten. Was dann passierte, muss mit einer gefährlichen Eigendynamik erklärt werden, einer Abwärtsspirale, die im Krankenhaus endete. Hände weg von Diäten oder spirituellen Experimenten!
Die nahrhafte Lasagne des Schlusssatzes steht für den freundlichen Umgang mit sich selbst. Aus der gewonnenen Energie und dem inneren Gleichgewicht schöpfen wir gerade die Kraft, uns mit uns und unserer Umwelt auseinanderzusetzen, auch spirituell.
Dr. Dominique Simon war von 2019 bis Juli 2025 Schulärztin am LG Rämibühl.
Vera Vuskovic ist Schülerin der Klasse 4i und Teil der Redaktion LGazette.
