Editorial

Fragmente entdecken

von Fabian Jud und Bettina Lang

 

«Liebster Max,

meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass [...] an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. [...]»

 

Liebe Leser:innen

Die testamentarische Verfügung Franz Kafkas dürfte einigen von Ihnen bekannt sein. Beim Lesen dieser Sätze stellen Sie sich wohlmöglich die Frage, ob Kafka seinen Nachlass aus Bescheidenheit oder gar Scham nicht mit der Nachwelt teilen wollte. Die Bitte und die möglichen Bedenken des Prager Autors wurden von Max Brod ignoriert. Dieser veröffentlichte nach dem Tod seines Freundes unter anderem die nicht vollendeten Texte «Das Schloss» wie auch «Der Process» und verhalf ihm posthum zu Weltruhm. In «Der Process» – ein Manuskript, das von Franz Kafka selbst im Jahr 1915 als gescheitertes Manuskript abgetan wurde – wird Josef K. von zwei Männern, von ihm als «Vollstrecker» bezeichnet, in einen Steinbruch geführt, wo sie ihn mit einem Messer ermorden.
 

«Mit schwacher Stimme sagte K., du musst doch ein Messer bei dir haben, ich habe zwei bei mir, sagte der Mann, hier sind sie. K. ergriff eines, um es sich in die Brust zu stoßen, aber es versagte ihm. Da stießen sie ihm ihre Messer in die Kehle, und in diesem Augenblick erwachte er.»
 

Das offene Romanende birgt viele Fragen: Warum wird Josef K. hingerichtet? Was ist die Bedeutung seiner Schuld oder Unschuld? Kafkas Texte, seine unvollendeten wie auch seine vollendeten, bieten immensen Interpretationsspielraum. Dies zeugt nicht zuletzt von einer eigentümlichen Wesensverwandtschaft der literarischen Leerstelle mit dem Fragment. Im Grunde werden wir Leser:innen mit einer Aufforderung konfrontiert: Fülle die Leerstelle mit Sinn, die Bruchstelle mit Kontext!

Bruchstücke enthalten bloss eine Ahnung vom Ganzen; ihre Ränder gilt es zu ergänzen, nach Hinweisen zu suchen, welche mehr Umgebung zeigen und auf die Wirklichkeit des Kerns zurückverweisen. Wir alle, die fasziniert von solchen Rätseln sind, können neue Verbindungen, Bedeutungszusammenhänge und Perspektiven schaffen.

In dieser Ausgabe der LGazette nähern wir uns der Thematik «Fragmente» auf verschiedene Weise. In unserer wiederkehrenden Rubrik Retrospektive wird Ihnen der Umgang mit historischen Quellen aufgezeigt; in diesem Fall mit einem Grabstein, welcher Spuren eines vergangenen Lebens enthüllt (S. 12). Die Lücken dieser Quellen können Sie in einer fiktiven Erzählung «Das tote Kind von Turicum» (S. 18) nachlesen. In einer Reportage setzen sich die Autorinnen exemplarisch mit einem Zürcher Quartier auseinander und untersuchen, inwiefern die Gentrifizierung im Kreis 5 (S. 24) zu einer fragmentierten Gesellschaft führte. Mit «Fractals in music» (S. 34) haben wir nach vier Ausgaben unseren ersten fremdsprachigen Text veröffentlicht; darin wird die mathematische Komponente einer Bachfuge im Detail studiert. In den Portraits werden drei unterschiedliche Personen unserer Schule vorgestellt (S. 40), die in Verbindung doch eine Art Gemeinschaft bilden. Zudem gewähren uns zwei Schülerinnen einen bruchstückhaften Einblick in ihre Gedankenwelt und die Herausforderungen ihres Schulalltags: «Jede Tag es anders Lied» (S. 56). Im Schlusswort (S.66) geht Christine Feller den Möglichkeiten nach, wie die literarische Betrachtung von Fragmenten dazu beitragen kann, die Herausforderungen der Informationsflut und die Suche nach Wahrheit im digitalen Zeitalter zu bewältigen.

Die vorliegende Ausgabe der LGazette steht nicht nur im Licht des Fragmentarischen, sondern nimmt ein vergangenes Thema «Teamwork» wortwörtlich auf. Eine Vielzahl der Texteistinenger Zusammenarbeit im neuen Redaktionsteam – bestehend aus 10 Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe – entstanden. Ihnen und allen anderen Mitarbeiter:innen dieser Ausgabe sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!
 


Bettina Lang und Fabian Jud bilden die neue Redaktion der LGazette.
Illustration: Alba Frigerio