Retrospektive

Drei Grabinschriften

Fragmente von Lebensbeschreibungen

von Hans Jakob Urech


Als ich etwa fünf Jahre alt war, nahm mich meine Grossmutter mit auf den Friedhof. Dort holte sie mit einer Giesskanne Wasser und pflanzte auf dem Grab des Grossvaters ein paar Blumen. Während wir durch den Friedhof zurückgingen, zeigte sie mir auch noch mehrere andere Grabstätten und erzählte mir einiges über die Verwandten, welche dort bestattet waren. Meine Grossmutter war eine liebenswürdige und lebenslustige Frau, die viele Leute kannte und vieles zu erzählen hatte. Ich hörte ihr immer gern zu. Leider starb sie etwa ein Jahr später an einer bösartigen Krankheit. Ich erinnere mich oft an sie. Auch im Familienkreis sprechen wir manchmal von ihr. Zum Glück haben wie noch mehrere Fotografien von ihr sowie Gedichte und autobiografische Notizen, welche sie selber geschrieben hat.

Auf ihrem Grabstein aber steht fast nichts von all dem, sondern nur ihr Name und ihre Lebensdaten. Das Schreiben auf einen Stein ist eine aufwändige Arbeit. Man formuliert dort «lapidar». Das lateinische Wort für einen Stein ist lapis (Genitiv: lapidis). Das zugehörige Adjektiv lapidaris bedeutet ursprünglich «steinern» oder «steingerecht». Unsere meisten Grabinschriften geben nur kleine Bruchstücke oder Fragmente einer Biografie wieder. Alles Übrige aber muss man aus der persönlichen Erinnerung oder aus Fotografien und Briefen im Familienbesitz ergänzen.

Zum Sightseeing in Wien gehört auch der Zentralfriedhof. Unweit der Ehrengräber für Mozart und Beethoven findet man dort eine etwas kleinere Ehrengrabinschrift für Carl Czerny, der als «Tonkünstler» bezeichnet wird. Seine Lebensdaten werden auf den Tag genau angegeben: 21. Febr. 1791 - 15. Juli 1857. Natürlich ist dies nur ein kleines Fragment von Czernys Lebensbeschreibung. Czerny lebte offenbar ziemlich genau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. «Tonkünstler» bedeutet wohl das, was wir heute als «Musiker» bezeichnen. Aber was können wir heute noch über sein Leben und seine Musik wissen?

Viele Klavierschüler:innen erinnern sich wohl eher mit gemischten Gefühlen daran, dass sie Czernys Etüden üben mussten. Manche Pianist:innen betonen vielleicht, dass ihnen diese Etüden als vorzügliches Training für die Interpretation der Meisterwerke Mozarts und Beethovens gedient haben. Einige Beethovenbiografen erwähnen, dass Czerny dessen berühmtes 5. Klavierkonzert uraufgeführt hat. Czerny war ein bedeutender Pianist, zu dessen Schülern z.B. auch Franz Liszt gehörte, wie man auf Wikipedia erfahren kann. Dort sind auch mehrere schriftliche Lexikoneinträge und Biografien erwähnt. Und man nimmt zur Kenntnis: Czerny starb als wohlhabender Mann.

Die meisten Internetnutzer:innen aber haben nicht gewusst, dass Czerny selber viele Klaviersonaten und mehrere Klavierkonzerte und Sinfonien komponiert hat. Sein Werk umfasst mehr als 800 Opuszahlen, welche aber von den Fachleuten nicht besonders geschätzt wurden. Robert Schumann zum Beispiel erlaubte sich in seiner «Neuen Zeitschrift für Musik» (November 1837) die bissige Bemerkung: «Versetze man doch den geschätzten Komponisten in den Ruhestand.» Immerhin findet man heute im Internet mehrere Hinweise auf moderne Einspielungen von Czernys Werken.

In den obigen beiden Beispielen können die fragmentarischen Angaben einer Grabinschrift aus persönlichen Erinnerungen oder einem reichen schriftlichen Quellenmaterial zur bestatteten Person zu einer Biografie ergänzt werden. Ganz anders verhält es sich mit unserem dritten Beispiel. Im Jahr 1747 wurde auf dem Lindenhof in Zürich ein beschriebener Steinblock gefunden (vgl. Abbildung 1). Heute ist er im Landesmuseum ausgestellt. Manche Leser:innen haben ihn vielleicht schon einmal gesehen. Selbstverständlich findet man im Internet einige Informationen über diesen Stein. Eine direkte Überlieferung aber existiert nicht. Die meisten Angaben im Internet verdanken wir den Interpretationen von Altertumswissenschaftlern.

Was wir unmittelbar sehen können: Der Steinblock ist 130 cm hoch und 62 cm breit (Tiefe: 37 cm; Buchstabenhöhe: 5-8 cm). Die Inschrift ist lateinisch. Sie umfasst zuoberst die beiden Buchstaben «D» und «M». Dazu kommen 8 Textzeilen. Die Buchstaben sind schön und gross. Die Schrift enthält einige Ligaturen. So nennt man die Zusammenfassungen von Buchstaben zu einem einzigen Zeichen. Ein schönes Beispiel finden wir in Zeile 3: Das scheinbar christliche Kreuz nach VIX ist die Ligatur für IT. Hier steht also die Verbalform «vixit»: «Er lebte» (und ist jetzt gestorben).

Wie man aus dem Vergleich mit vielen lateinischen Inschriften erschliessen kann, handelt es sich um eine Grabinschrift. «D» und «M» sind als Abkürzung für den Dativ «Dis Manibus» zu verstehen: «Für die Guten Götter». Damit sind die Totengeister angesprochen. Dazu passen die Zeilen 1 und 2: «Hic situs est L(ucius) Ael(ius) Urbicus»: «Hier ist L(ucius) Ael(ius) Urbicus bestattet». Römische Bürger hatten bekanntlich drei Namen. Die sorgfältige Gestaltung und der Umfang der Inschrift lassen sich vergleichen mit der Grabinschrift für den Lokalpolitiker L. Sergius Lustrostaius Domitinus im römischen Nyon (vgl. Abbildung 3). Ist auch unsere Zürcher Inschrift die Grabinschrift für ein verdientes Mitglied der Oberschicht?

Die folgenden beiden Zeilen beinhalten die Lebensdaten der bestatteten Person: «Qui vixit an(no) uno, m(ensibus) V d(iebus) V». Dies ist keine Angabe über das Geburts- und Todesdatum, sondern die Lebensdauer. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Aelius Urbicus starb als Kleinkind. Er wurde nur ein Jahr, fünf Monate und fünf Tage alt. Bekanntlich war die Kindersterblichkeit früher sehr hoch. Für Kinder hätten wir deshalb eher eine bescheidenere Inschrift erwartet, wie z.B. diejenige für Olus und Fuscinus in Augusta Raurica (vgl. Abbildung 2).

Warum also dieser aufwändige Grabstein für Aelius Urbicus? Vermutlich geben uns die Zeilen 5-8 der Inschrift eine Erklärung. Sie nennen die Verantwortlichen für das Grabmal und zum Schluss noch einmal das bestattete Kind: «Unio Aug(usti) lib(ertus) p(rae)p(ositus) sta(tionis) Turicen(sis) XL (≈ quadragesimae) G(alliarum) et Ae(lia) Secundin(a) p(arentes) dulcissim(o) f(ilio)»: «Unio, Freigelassener des Kaisers, Vorsteher der Zollstation von Turicum, und Aelia Secundina, die Eltern (haben dieses Grabmal errichtet) für ihren allerliebsten Sohn.» Der Vater Unio (hier wohl: «die grosse Perle») war vermutlich ein tüchtiger Sklave in der kaiserlichen Verwaltung, der aufgrund seiner Verdienste freigelassen wurde und als Zollvorsteher weitergearbeitet hat. Als Freigelassener hatte er Anteil am römischen Bürgerrecht und durfte darauf zählen, dass spätestens seine Enkel den römischen Bürgern gleichgestellt würden. Nach seiner Freilassung hatte der ehemalige Sklave den Geschlechtsnamen seines Herrn übernommen. In den Jahren 117-192 führten die römischen Kaiser meistens den Familiennamen Aelius. Die Mutter Aelia Secundina war wohl auch eine Freigelassene des Kaisers.

Der Vater nennt sich trotz seiner Freilassung noch mit seinem Sklavennamen «Unio». Er hat zwar Karriere gemacht. Aber frühestens sein Sohn wird ein römischer Vollbürger sein. Unio hoffte wohl, über diesen Sohn zum Stammvater eines bedeutenden römischen Geschlechts zu werden. Darum nennt er ihn voller Stolz mit allen drei Namen des römischen Bürgers: Lucius Aelius Urbicus. «Urbicus» bedeutet «zur Hauptstadt gehörig» und lässt erahnen, dass Unios Sohn später Karriere in Rom machen sollte. Und jetzt ist er tot! Wir können uns die Verzweiflung der Eltern gut vorstellen, die das Gefühl haben mussten, mit ihrem Söhnchen auch ihre Hoffnungen auf die Zukunft ihrer Familie zu begraben. Diese Grabinschrift ist nicht nur als Fragment einer Familientragödie zu verstehen. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in römischer Zeit. «Aelius» war zwischen 117 und 191 der Familienname der Kaiser. Damit wird unsere Inschrift ins 2. Jahrhundert n. Chr. datiert. Damals gab es in Zürich eine Zollstation: Wer z. B. von der Provinz «Raetia» nach Zürich reiste, überquerte nach der Schifffahrt über den Walensee die Grenze zur Provinz «Germania Superior» und gelangte (wieder mit dem Schiff) nach Zürich. Dort erst lag die betreffende Zollstation. Zu deren Sicherung hat man schon in der Mitte des 2. Jahrhunderts in Erde-Holz-Technik ein Kastell errichtet. Falls unser Reisender Waren mit sich führte, musste er dort 2,5 % Einfuhrzoll entrichten. Dieser Ort wurde, wie wir seit der Auffindung unserer Inschrift wissen, «Turicum» genannt.
 


Dr. Hans Jakob Urech war 37 Jahre Latein- und Griechischlehrer am Literargymnasium. Seit dem Sommer 2022 ist er im Ruhestand.