ERZÄHLSOIRÉE

Ich bin Lukas von Neuwürzburg

 

von Naima Geiger

 

Hallo, ich bin Lukas von Neuwürzburg, professioneller Verrückter. Ich treffe dich meistens an Bahnhöfen und immer, wenn du es nicht erwartest. Ich habe viele Namen und manchmal auch deinen, ich bin Pharao, Professor und Hofnarr in einem.

Angehörige der Menschenrasse meiden mich, bescheissen sich und treiben dich weg von mir und dem angeblichen Wahnsinn, den ich mit mir bring’. Doch was wissen die schon, diese Gelehrten, Belehrten und verkehrten Heuchler, nichts wissen sie und das können sie nicht ertragen. Denn das hiesse, dass unsere Existenzen zusammenstossen, ineinanderfliessen und eins werden würden. Diese unerträgliche Einheit von mir und ihnen, mir und dir, allem und mehr zeichnet einen Kreis auf unser Sein, den sie nicht sehen möchten, einen Kreis, der beweist, dass ich und sie, einst Gegensätze in ihrem Geist, kuschelnd nahe beieinander liegen.

Hallo, ich bin Lukas von Neuwürzburg, professioneller Verrückter und Teilzeitphilosoph. Nun kennst du mich und da wir sowieso schon auf dem ewigen Kreis des Seins den Beischlaf praktizieren, so möchte ich dir berichten, wie es dazu kam, dass ich mir den eigenen Verstand nahm.

Einst war auch ich ein Lemming des Systems, ein Teil des Problems und gelernter Gärtner. So begannen meine Morgen immer gleich und an erster Stelle meines Tagesablaufes stand, wie bei jedermann, nicht zu wollen, dass der Morgen begann. Nach einem ausgiebigen Bad in Selbstmitleid und je nach Stimmung einem Frühstück mit einer Prise Existenzkrise stellte ich meine nackten Füsse auf den Boden der (äusserst kalten) Tatsachen und stand auf. Die Brille aufgesetzt und in meiner Gärtnerpracht hergerichtet, goss ich meine Zimmerpflanze und fütterte die Katze, bis mir die Uhr, wie jeden Morgen, vollkommen überraschend berichtete, dass ich zu spät komme zu meinem Einsatze.

Eines unerwartet gewöhnlichen Morgens jedoch hatte mein Verstand genug von diesem immer gleichen Leben und sah das als Zeichen, sich Ferien zu nehmen. Deshalb liess ich an diesem Morgen mein Bad und meine Mahlzeit aus und stand im Handstand von meinem Bett auf. Die Brille brauchte ich nicht mehr, denn verschwommen sieht man besser und mein Gewand wurde kurzerhand verbrannt, zu viele Ähnlichkeiten wies es auf mit einem orangen Einteiler mit Häftlingsnummer. Ich goss meine Katze und fütterte die Pflanze, sah auf die Uhr und erkannte, dass Zeit und Raum eine Lüge sind, die täglich aus der Fantasie der Menschenrasse entspringt.

Als mein Verstand braun gebräunt und mit einer Hawaii-Kette um den Hals zu mir zurückkam, war er ironischerweise schockiert, mich splitternackt und amüsiert um ein Lagerfeuer herumtanzen zu sehen, welches hin und wieder, zum Erhalt und Bestehen, mit Pflichten und Tugenden gefüttert wurde, die noch irgendwo in meiner Wohnung herumgurkten.

Ohne zu zögern, ganz nach seinem rationalen Charakter, bestellte der Verstand sofort wieder sein altes Zimmerchen im Kopfe des Nackten. Nun war er erneut der Systemverwalter und betätigte die notwendigen Schalter, um zuerst seine besten Freunde Scham und Sorge auf mich loszulassen. Danach kamen auch die anderen unangenehmen Sensationen des Bewusstseins in Massen. Ich bedeckte mich und löschte das Feuer, der Teppich war ja schliesslich teuer. Schlussendlich hörte ich auch zu tanzen auf, der Verstand sah keinen Nutzen in dem Ganzen.
Ich bekam mein Leben zurück, doch hatte die Freiheit verloren.

Nun nenne mich verrückt, doch war ich von diesem Tausch weniger entzückt. Ich erkannte die Lösung für all meine Probleme und sie hiess, mir selber den Verstand zu nehmen.
Dazu gibt es Tausende Wege wie zum Beispiel das Erleben von Hunger, fehlendem Schlummer und grossem Kummer.

Aber auch triviale Ansätze wie das Schauen von realitätsfremdem Reality-TV oder der Streit mit der Ehefrau gelten als effektiv.

Was ich genau tat, ist mir nicht mehr ganz klar, doch ehe ich es mir versah, waren Buchstaben nicht mehr lesbar, Lügen plötzlich wahr und ich stand neben dem Wahnsinn am Altar, seine Hand in meinem Haar, – das perfekte Brautpaar.

Hallo, ich bin Lukas von Neuwürzburg, professioneller Verrückter, Teilzeitphilosoph, Gatte des Wahnsinns und Kammerjäger, spezialisiert auf Verstände.

Ich hoffe, dieser Text gab dir zu erkennen, dass dich vorgeschriebene Denkmuster von der Realität trennen, Pflichten und Tugenden sowie Kleider leicht brennen und dass du der Zeit niemals einen Schritt voraus sein kannst, ihr befindet euch in einem ewigen Kopf-an-Kopf-Rennen.

Also löse auch du dich von deinem Verstand, die Vorteile liegen auf der Hand:

Einschränkende Kleidung wird verbrannt und die Freiheit deiner Gedanken erlangt, die Zeit wird in das weite Land der Irrelevanz verbannt.
Und verstehe mich nicht falsch, wir brauchen logisch denkende, uns einschränkende Systemdiener; sonst gäbe es keine Kleidung zum Verbrennen oder Denkmuster zum Sprengen. Doch du, der du durch meinen reimumschlungenen und schwachsinnsdurchdrungenen Text gerudert bist, kennst die Gefahren auf offener See der Rationalität, gewiss. Einsam, verzweifelt und verloren hast du schon in mancher besonders stürmenden Nacht zum Leuchtturm geblickt, der dir Ruhe vor den Wellen verspricht, beinahe hättest du aufgehört, nach den Rudern deines Bootes zu fassen, und dich einfach gehen lassen. Am Ufer der Insel mit dem Leuchtturm wärst du aufgewacht und hättest vielleicht meinen Verstand getroffen, der, mittlerweile schon vollkommen besoffen, auch deinem Verstand eine Hawaii-Kette umlegt, welcher sich daraufhin aus deinem Körper hinausbewegt und obsolet zum zeitlosen Lagerfeuer der Pflichten und Tugenden geht.

Hallo, ich bin Lukas von Neuwürzburg, professioneller Verrückter. Ich treffe dich meistens an Bahnhöfen und immer, wenn du es nicht erwartest. Ich habe viele Namen und manchmal auch deinen, ich bin Pharao, Professor und Hofnarr in einem.

Ich heisse dich willkommen auf dem Kreis des ewigen Seins und obendrein in eine beschränkte Gesellschaft, welcher der Blick auf eben diesen Kreis Freude und nicht Angst verschafft.
 

 


Naima Geiger ist Schülerin der Klasse 6c. Sie hat an der diesjährigen Ausrichtung der LG-Erzählsoirée mit dem vorliegenden Text den ersten Preis in der Kategorie „deutsche Texte“ gewonnen.
Bild: Dario Zwald, Zayan Amin und Karim Kinteh