ESSAY

Die Individualgesellschaft

 

von Leon Spillmann

 

Die Individualgesellschaft lebt in Vereinzelung. Die Teppichetage fährt allein in aschfahlen 6-Sitzer-SUV‘s zur Arbeit, sitzt isoliert im grossräumigen Büro und kehrt abends in das verlassene Penthouse zurück. Anders als die anachronistischen Aristokrat:innen meinen sie, sich ihr Privileg selbstständig erarbeitet zu haben, denn das Start-up mit einem sechsstelligen Kredit der Familie zu gründen, heisst Risiko eingehen. Sie wähnen sich frei, nehmen keine Befehle entgegen und haben nicht zu gehorchen. Freiheit bedeutet dann, fürs Wochenende nach Monaco zu fliegen, um den Fliehkräften trotzenden Rennfahrern zuzusehen, wie sie 78 Runden dieselbe Strecke abrasen. Oder sie meinen, dass ein Teil des Profits in Charities ausgeschüttet werden muss, damit die Erde gezielt, und nach ihrer Vorstellung, zu einem besseren Ort gemacht werden kann. Die vermiedenen Steuerabgaben und die Konservierung des vorherrschenden Systems sind gewissermassen die Oliven im Martini.

Was in den frühen 1970er Jahren die antiautoritären Hippies waren, sind heute der Entrepreneur und die Unternehmerin. Allerdings beschränkt sich die Idee der individuellen Freiheit, wie sie von ihnen vorgelebt wird, nicht bloss auf die Wohlhabenden. Der Glaube an den «self-made man», welcher es trotz seiner Einsamkeit geschafft hat, Kapital in Hülle und Fülle anzuhäufen – wie ein fleissiges Eichhörnchen –, ist bezeichnend für die Individualgesellschaft. Erst die Grenzen der eigenen Phantasie vermögen dann, den scheinbar legitimen Konsum-Hedonismus in seine Schranken zu weisen. Dass dabei aber nur die wenigstens reüssieren, liegt wohl eher an den strukturellen Nachteilen als an der «natürlichen» Beschränktheit, wie es aus den Untiefen des politischen Spektrums schallt.

Der moderne Mensch wird individuell gedacht. In einem ausgedienten Kernreaktor spalten wir[1] das Individuum auf sein Minimum. In Isolationshaft reduzieren wir die Einzelnen auf das Einzelste – wie ihn etwa die Faschisten auf Rasse reduziert haben. Was übrig bleibt, sind machiavellistische Prinzessinnen und Prinzen, die ihr nichtiges Reich einzig durch Intrigen und Hinterhältigkeit zu verteidigen wissen. Seit Gott tot ist und die Kirche verwelkt, erklären wir uns nun einmal biologisch. Unser Urzustand diktiert uns die Herrschaft über unsere Umwelt, als gäbe es dort draussen platonische Formen, die wir im Mutterleib abzeichnen und auswendig lernen könnten. Wozu dienen solche Menschenbilder?
 

Dekonstruktion des Individuums

Als die nächste Grossbank dem Untergang geweiht war und die sieben furchtlosen Reiter:innen des Bundesrats die Schweizerische Kreditanstalt mit Hellebarden, Lanzen und einem Kredit von 209 Milliarden verteidigten, forderten wir Opferlämmer. Das Scheitern der Traditionsbank wurde auf die Gier und die Unersättlichkeit einiger Kaderleute und Spitzenmanager:innen zurückgeführt. Diese alten Burgherr:innen warf man dann frohen Mutes über die bröckelnde Ringmauer. Damit war die Gefahr gebannt, ohne dass die Verteidigungsanlagen oder die Architektonik der Grossbankenschlösser in Frage gestellt wurden. Die individualistische Ideologie zeitigt die Erhaltung des Bestehenden.

Ebenso wenig wie Biolog:innen eine Pflanze im sterilisierten Labor unter dem Mikroskop verstehen, begreifen Psycholog:innen das Individuum abgedichtet. Vielmehr studieren sie den Menschen in der ihn umringenden und umschlingenden Mitwelt. Obwohl das Studieren eines Menschen manchmal an groteske Völkerschauen erinnert (die der Zirkus Knie bis 1964 zeigte) hätten die Stimmen, welche die CS-Manager:innen für das Knie schlotternde Debakel verantwortlich machten, gut daran getan, den Menschen zu ”studieren“. Wir[2] sind schliesslich nicht ummantelt von einer bleiernen Schicht, die Strahlen und Teilchen abschirmen könnte, sondern schaukeln als winzige Organismen im schäumenden und sprudelnden Ozean der Geschehnisse. 

 

Diese Vorstellung stimmt uns vielleicht melancholisch. Was, wenn es das «Ich» gar nicht gibt, sondern nur Beziehungen, in denen wir auftreten? Was, wenn die Umstände, unter denen wir leben, bedeutsamer sind, als wir es sind? Wenn Robert Musil vor hundert Jahren schrieb: «In Deutschland gibt es keine Menschen, nur noch Berufe», dann schrieb er es in nihilistischer Bedrückung. Die entzauberte, vernünftige Welt riss uns unaufgefordert aus unserem Gespinst von Dunst, Einbildung und Träumerei. Maschinen, die taktiert, tausendmal schneller um ihre eigenen Achsen rotieren als unsere Erde, deren Sirenen erschütternd nach Erlösung klagen, die in mathematischer Exaktheit ihre Arbeit verrichten, pulverisierten mit ihren geölten Rädchen unsere Vorstellung. So, dachte man, die mechanisierte Welt legte die Individualität still. Tatsächlich fabrizierte sie die Idee der Verhältnisse.

Verhältnisse sind jedoch despotisch. Sie umfassen alles, sodass sie alles, auch sich selbst, trüben, ohne zu betrüben. Sie bedingen die Dinge. Sie sind nicht statisch, sie fliessen.

Wandel erschreckt uns. Dinge, die ihr Wesen nicht in sich tragen, sondern durch Differenz und Resonanz mit anderen Dingen erhalten, befremden uns. Womöglich haben wir zu lange antiken Philosophen zugehört, die meinten, die Substanz der Dinge sei in ihnen und konstant. Wie Milo Rau in seinen Poetikvorlesungen dichterisch festhielt, hat man nicht eine Heimat, eine Kultur, eine Biografie – die Heimat, die Kultur, die Biografie haben uns. Wir sind keine fortwährenden Identitäten – unsere Zellen erneuern sich zyklisch. Wir wandern nicht als vereinzelte Körper durch den Dschungel – wir bilden gemeinsam mit 30 Billionen Mikroorganismen Erdlinge.

Stimmt es uns wehmütig?

Dem Kollektiv haftet immer noch etwas Stalinistisches an. Massenbewegungen schadeten am Ende immer den Interessen der Massen. Doch was, wenn die Geschichte des Planeten seit jeher eine Geschichte der Massenbewegung war? Wenn wir in Kollaboration, Gemeinsamkeit und Verflechtung geworfen sind? Schaffen wir es, in Begegnungen den überlappenden Menschen nicht zu vergessen? Vermögen wir eine Welt zu realisieren, die das Mosaik und seine bunten Steinchen gleichwertig bestaunt? Können wir es ertragen, eine Vielfalt, eine Vielzahl zu sein?

 

[1] Im Folgenden steht das «wir» sinnbildlich für die dominante «westliche» Weltanschauung. Zweifelsohne gibt und gab es im «Westen» und vor allem im «Nicht-Westen» alternative Weltanschauungen.

[2]Dieses «wir» meint erstmals sämtliche Bewohner:innen dieses Planeten. Bis auf den Satz «Die entzaubert vernünftige Welt riss uns (…)» sowie «Womöglich haben wir zu Lange (…)» sind anschliessend alle gemeint.


Leon Spillmann ist Schüler der Klasse 6b.
Illustration: Fynn Steiner