SCHLUSSWORT

Wenn der Sommer kommt

 

von Cora Nanut

 

Die Sonne scheint ins Klassenzimmer. Vor dem Fenster sind grün spriessende Bäume zu sehen, die den lang ersehnten Frühling ankündigen. Durch das wegen des rot blinkenden CO2-Lämpchens weit aufgerissene Fenster weht ein überraschend warmer Wind zwischen den Sitzreihen hindurch. Besonders fest freut sich Marie (16 Jahre) auf das kommende warme Wetter. Auf die Frage, wie sie die intensive, stressige Schulzeit mit Vergnügen in der Freizeit in ein gesundes Verhältnis zu bringen plane, lautet die Antwort der Viertklässlerin, die Schule sei im Moment sowieso sehr einfach, weshalb sie sich gar keine Gedanken darüber mache, wie sie den Sommer parallel zum Lernen geniessen könne. Sie erzählt von den Plänen, die sie und ihre Freund:innen für den Sommer haben. Sie könnten es kaum erwarten, wenn vor oder nach einer Mittagsstunde Lektionen ausfielen, weil sie dann ins Letten gehen möchten. «Wir haben uns alle vorgenommen, einen Beutel mit einem Badetuch und Badekleid im Spind aufzubewahren, damit wir jederzeit baden gehen können, wenn es das Wetter und die Zeit erlauben», erläutert sie schmunzelnd.

Obwohl der Schulstress eigentlich gestiegen sei, lässt sich Marie nicht davon beirren. Sie meint: «Ob mit oder ohne Stress, das Ergebnis bleibt meistens gleich, nur dass sich ohne Stress das Leben mehr geniessen lässt. Das unterscheidet das jetzige Ich von meinem Erstklässlerinnen-Ich. Damals war ich so gestresst und hatte eine riesige Angst davor, das Gymi nicht zu schaffen. Die Schule war meine einzige Priorität, aber dennoch waren meine Noten nicht allzu gut und ich war ausserdem unglücklich.»

Marie erzählt davon, wie sie ihre Prioritäten heute setzt: «Letzten Sonntag zum Beispiel, da hatte ich extrem viel zu tun, weil ich alles, was ich erledigen musste, vor mir hergeschoben hatte. Es hatte die ganze Woche davor geregnet, obwohl es schon Ende Mai ist, unglaublich. Durch das Dreckswetter war meine Energie die ganze Woche lang im Keller gewesen und ich hatte mich jeden Tag nach der Schule direkt in mein Bett geschmissen, wo ich bis zum Abendessen liegen geblieben war. Ich konnte mich beim besten Willen nicht dazu bringen, aufzustehen und etwas für die Schule zu erledigen. Also schaute ich einfach den ganzen Nachmittag lang Netflix , weil ich für nichts Anderes Kraft hatte. Am Sonntag aber ist dann endlich die Sonne rausgekommen und ich konnte mit kurzen Ärmeln durch die Stadt schlendern. Plötzlich hatte ich wieder Energie, konnte diese aber immer noch nicht in meine Schulsachen investieren, also habe ich mich mit Freund:innen getroffen. Ich hatte schon seit Langem nicht mehr so eine schöne, sorglose Zeit verbracht. Als ich am Abend nach Hause kam, war ich immer noch voller Energie, die ich schliesslich widerwillig zum Lernen genutzt habe. Zugegeben, ich kam nicht allzu weit – und bei den Prüfungen stand es dann die folgende Woche nicht allzu gut für mich, doch es ging mir prima. Ich fühlte mich erholt und ekstatisch, wie schon lange nicht mehr. Am Montag in der Schule hatte ich endlich wieder genug Energie, um nicht jede Stunde zu bereuen, das Bett verlassen zu haben. Ich muss zugeben, im Laufe des Tages hat sich dann eine leichte Verzweiflung angebahnt, da mir bewusst wurde, wie viel mehr meine Mitschüler:innen schon für die Prüfung am Mittwoch getan hatten. Schnell aber war ich wieder ganz Zen, als mir meine Kollegin aus der Klasse ihre Zusammenfassung des Stoffs zukommen liess. Sie meinte: Weil ich ihr immer im Französischunterricht aushälfe, würde sie sich nun in Biologie bei mir revanchieren. Ich bin dankbar für die gegenseitige Unterstützung, mit der wir einander während des Gymnasiums aushelfen.»

Marie macht sich also das Leben so leicht, wie es ihr die Umstände erlauben; sie könnte nicht glücklicher sein. Eine Klasse über Marie wünscht sich die Fünftklässlerin Alessandra (17 Jahre), sie könne dasselbe behaupten wie Marie. Bei ihr sei der Stress im Moment nur knapp auszuhalten und sie komme in der Schule kaum noch mit. Alessandra sieht sich schon den ganzen Sommer mit ihren Klassenkamerad:innen in den düsteren Ecken der Zentralbibliothek sitzen und schwitzen – buchstäblich und metaphorisch!

Dennoch sei die Situation nicht so hoffnungslos trist, wie sie im ersten Moment erscheinen möge.

Es gibt tatsächlich noch einiges, worauf sich die Siebzehnjährige freut, wie zum Beispiel die kleinen, süssen Momente auf der ZB-Toilette, in denen sie mit einer Kollegin aus dem Stadi, an die Wand gelehnt, Chips esse und vom kommenden Sommer schwärme: «Wir haben», sagt Alessandra, «zwanzig Minuten damit verbracht, einander von unseren Kindheitserinnerungen zu erzählen. Wir konnten uns kaum wieder zur Arbeit zwingen. Während des Lernens kommt dann schnell wieder der Wunsch auf, sich aufs Klo zu verziehen.»

Auch die Raucher:innenpausen während der Arbeit in der ZB weiss Alessandra zu schätzen. Dabei werde ihr immer wieder bewusst, wie sehr sie im ZB-Inneren vor sich hinschmore – wie in einem Gewächshaus. «Mein Highlight ist jeweils, wenn ich nach dem Lernen einen Kaffee im Zähringer trinke und über alles andere als Schule rede», berichtet Alessandra. «Dort könnte ich Stunden verbringen.»
Die Aufregung um die guten Vornoten sei gross, meint Alessandra, doch es fehle vielen Schüler:innen die nötige Motivation und Energie. Nur noch wenige Jugendliche hätten Lust darauf, zur Schule zu gehen: «Der Unterricht interessiert nur noch eine Minderheit in der Klasse, es geht jetzt den meisten nur noch darum, in den Prüfungen gute Noten zu erzielen», erklärt sie. Diese Einstellung erscheint Alessandra verständlich: «Seit Tag eins wurde Wert einzig auf die Noten gelegt. Um ans Gymi zu kommen, musste man gute Vornoten haben und die Gymiprüfung bestehen. Danach musste man die Probezeit bestehen, also sind wieder die Noten extrem wichtig. Jahr für Jahr muss man sich mit genügend guten Noten durchschlagen und irgendwann hat man den Dreh raus, wie man mit minimalem Aufwand eine zufriedenstellende Leistung erzielt.»

Einander aushelfend beissen sich Alessandra und ihre Klassenkamerad:innen durch. Gemeinsam investieren sie nach der Schule Stunden in der ZB; sie versorgen einander mit Zusammenfassungen, erklären einander den Prüfungsstoff, geben einander Rückmeldungen zu ihren wissenschaftlichen Arbeiten. Sie haben ein Ziel vor Augen: die Sommerferien. «Was danach kommt?», fragt Alessandra. «Daran will ich im Moment nicht denken. Ich will jetzt durchziehen, bis die Prüfungsphase vorbei ist, und dann wird zwischen dem Endpunkt dieses Semesters und den Sommerferien einfach mal gechillt. Nach der Schule gemeinsam in die Badi, vielleicht mal mit einem aufblasbaren Boot die Limmat runter, während die Sonne genossen wird. Frühstück-Mimosas an einem Samstagmorgen mit meinen Kolleginnen aus der Klasse, wobei kein einziger Gedanke an die Schule verschwendet wird. Unter der Woche am See grillieren und dann mit dem Fahrrad nach Hause. Wenn man es sich so gut ergehen lässt und das Leben geniesst, braucht man gar keinen Schlaf mehr. Die Sonne scheint und ich habe mit fünf Stunden Schlaf mehr Energie als mit zwölf im Winter.»

 


Cora Nanut ist Schülerin der Klasse 5b.
Illustration: Maeva Winzap