ERFAHRUNGSBERICHT

Spielend Analysieren

 

Das LG als Partnerschule des Schauspielhauses

 

von Raffael Wipf

 

An einem schönen Dienstagabend trifft sich die Klasse 3a des LG Rämibühl vor dem Schauspielhaus Pfauen in Zürich. Der Grund: das Theaterstück «Ödipus Tyrann». Wir hatten im Unterricht bereits die Tragödie von Sophokles gelesen; doch zu diesem Zeitpunkt, vor dem Theater, haben wir nicht die leiseste Ahnung, was uns erwarten wird.

Zwei weiss gekleidete Frauen betreten die Bühne. Sie beginnen den Originaldialog des antiken Dramas synchron zu sprechen, doch plötzlich übernehmen sie andere Rollen. Ein Spiel, das beeindruckt. Unzählige und lange Proben müssen diesem harmonischen, ja beinahe perfekten Spiel vorausgegangen sein; die Schauspielerinnen verstehen sich sozusagen blind. Zunächst spielt Patrycia Ziólkowska den Ödipus; zehn Minuten später wird er von Alicia Aumüller gemimt. Sie spricht selbstgerecht davon, den Menschen, der Schande über Theben brachte, zu töten. Ziólkowska als Teiresias, der Seher des Dramas, mahnt Ödipus mit erhobener Stimme. Beide schreien laut. Teiresias beschuldigt danach Ödipus, seinen Vater umgebracht und mit seiner Mutter geschlafen zu haben. Nur wenige Augenblicke später ist wieder alles umgekrempelt, ausgetauscht: Die Rollen, die Szene, die Atmosphäre. Es ist teils verwirrend. Die Wucht der Emotionen, denen in diesem Theaterstück freien Lauf gelassen wird, ist überwältigend. Die schreckliche Tragik des Dramas wird in jeder Szene betont. Plötzlich: Grelles Scheinwerferlicht blendet das Publikum. Beinahe eine Qual, die wir für einige Minuten ertragen müssen. Ödipus verzweifelt an seinen Schuldgefühlen. Ausserdem hat er zu Beginn der Tragödie eine Rede darüber gehalten, dass er die Schande eigenhändig entfernen würde. Und nun: Tut er es nicht, weil er selbst «Schande» über sein Land gebracht hat? Doch das Licht leuchtet uns an. Tragen wir etwa eine Teilschuld?

Dass Klassen des Literargymnasiums Dramen nicht nur im Unterricht lesen, besprechen und analysieren, sondern diese des Öfteren auch visuell geniessen können, liegt an der engen Zusammenarbeit zwischen dem Schauspielhaus Zürich und dem LG. Verantwortlich für diese Kooperation ist Manuela Runge. Frau Runge ist eine aufgeweckte, überaus theaterbegeisterte Person, die ihrem Beruf mit Leidenschaft nachgeht. Sie leitet die künstlerische Vermittlung von Theater und Schule am Schauspielhaus Zürich, deren Aufgabe es ist, Angebote und Projekte für Schüler:innen zu entwickeln. Das heisst in unserem Falle zum Beispiel einen Workshop zum «Ödipus»-Drama, in welchem die Eindrücke und Analysen in einer Nachbesprechung thematisiert werden. Ihr Angebot richtet sich an Schulen, an Lehrpersonen und natürlich vor allem an Schüler:innen. Es geht darum, sie zu einem Theaterbesuch eines Stückes einzuladen, mit dem sich die Lehrperson beschäftigen möchte, und so etwas tiefer in die Theaterwelt einzutauchen. «Sich mit einem Stück beschäftigen, heisst, mit den Themen und Inhalten des Stücks zu arbeiten, aber auch sich mit der Arbeit der Regie und des künstlerischen Teams auseinanderzusetzen», meint Manuela Runge im Gespräch. Zentrale Fragen, welche im Nachbesprechungsworkshop immer wieder wichtig sind: «Wie entwickelt man eigentlich eine Figur?», «Wie entsteht das Bühnenbild?», «Wie entsteht das Kostümbild?». «Wir versuchen, zu erfahren, wer da alles am Prozess beteiligt ist, und damit nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, sondern auch ein bisschen mehr Hintergrundinformationen zu erfahren», so Frau Runge.

Was Manuela Runge mit den Schüler:innen zu schaffen versucht, sind Erfahrungsräume. «Erfahrungsräume sind Räume, in denen Schüler:innen etwas ausprobieren und erfahren können, indem sie sich mit einem Thema beschäftigen». Diese Erfahrungsräume sind wichtig, weil die Jugendlichen lernen sollen, ihre Meinung in eine Gesellschaft einzubringen. Bei der Inszenierung «Ich chan es Zündhölzli azünde» handelt es sich um ein Theaterstück, das sich der Gefühlswelt von Jugendlichen annimmt. Unserer Klasse war es dank der Zusammenarbeit unserer Schule mit dem Schauspielhaus Zürich möglich, das Stück vor der ersten Aufführung während der Hauptprobe zu sehen. Wir hatten somit direkten Einblick in den Arbeitsprozess am Schauspielhaus. Im Workshop, der von Runges Kollegin Zora Maag geleitet wird, werden die Schüler:innen mit den Themen Wut und Protest konfrontiert: «Was empört Jugendliche? Wofür setzen sie sich ein?». Das Ziel der Theaterpädagogin ist es nicht, als Expertin aufzutreten und zu sagen: «So und so funktioniert Protest.» Sondern einen Raum zu eröffnen, in dem wir miteinander etwas herausfinden können, nämlich was Protest für die Schüler:innen bedeutet. Es geht um die Selbstreflexion junger Menschen. Aber auch um das Teilen von Erfahrungen. Es geht um das gemeinsame Diskutieren anhand konkreter Fragen: «Überlegt euch einmal, für welche Freiheiten ihr auf die Strasse gehen würdet? Welche Freiheit ist euch am wichtigsten?» Die Antworten werden in einer kurzen Theaterszene dargestellt. Genau diese Arbeit macht Frau Runge unglaublich Spass, denn durch die Diskussionen, die entstehen, lerne auch sie immer neue und spannende Ansichten kennen, bei denen sie sich oft denke: «So habe ich das noch gar nie betrachtet.» Dieser Austausch ist nicht nur Manuela Runge wichtig, sondern trägt auch dazu bei, dass die Schüler:innen lernen, sich verstärkt in die Gesellschaft einzubringen. Auf diese Weise machen sie einen wichtigen Schritt in ihrer Entwicklung.

 


Raffael Wipf ist Schüler der Klasse 3a.