KURZGESCHICHTE
DIE UHREN
von Viviane Blöchlinger
Erstens
Akin war ein Mann der Gewohnheit.
Jeden Tag, um Punkt sieben, zog er sich an – einen Anzug mit Krawatte, schwarze Wollsocken und eine Uhr mit Lederarmband. Er öffnete die Vorhänge in seinem Schlafzimmer, die Gardinen im Wohnzimmer und setzte sich einen Pfefferminztee mit Wildblütenhonig auf. Exakt um vierzehn nach sieben ass er ein Stück Brot mit Erdbeerkonfitüre und Butter, hörte seine tägliche Radioshow und putzte anschliessend genau drei Minuten lang seine Zähne. Und jeden Tag um fünf nach halb acht zog er seine Schuhe an, schwarze Stiefel, verliess das Haus, stieg in den nächsten Bus – Abfahrt: 07.45 – und erreichte um acht Uhr seinen Arbeitsplatz.
Jede seiner Aufgaben eine gewisse Anzahl Sekunden, eine gewisse Anzahl von leisen Ticks seiner analogen Uhr. Jeder seiner Schritte begleitet von diesem regelmässigen Ticken, wie von einem Rhythmus, einem Herzschlag, einem Lied, welches Akin durch den Tag führt. Von nichts aus dem Takt zu bringen, unendlich genau, exakt und präzise – wie Akins Leben.
Bis eines Morgens seine Armbanduhr stehen blieb.
Die schwarze Box war tief in seiner Nachttischschublade verstaut. Obwohl er diese erst ein Jahr besass, bedeckte sie eine Staubschicht, die Akins Augen tränen liess. Vorsichtig öffnete er die Schachtel und nahm die schmale Digitaluhr aus dem Inneren heraus. Die Uhr war noch vollständig aufgeladen vom letzten Mal, als sein Neffe ihn besucht hatte. Er erinnerte sich noch gut an den Tag: Die weissen Schuhe seines Neffen auf dem Küchentisch, dunkle Schlieren an den Sohlen, seine Stimme: «Du kannst nicht für immer im 18. Jahrhundert leben! Wenn du schon kein Smartphone hast, benutze wenigstens die digitale Uhr, die du von mir bekommen hast». Er erinnert sich auch an sein eigenes, heftiges Protestieren. Sein Neffe, ihn ignorierend, begann, die Digitaluhr aufzuladen – und heute hatte er keine andere Wahl mehr, als sie tatsächlich zu gebrauchen.
Die Uhr zeigte 07.02 an.
Akin war etwas zu spät, um seine Vorhänge aufzuziehen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bemerkte er das fehlende Ticken der Uhr, kein Ticken, kein Herzschlag, Akin blieb stehen. Der Rhythmus war weg.
Akin war viel zu spät. Ohne das regelmässige Ticken seiner Uhr liess er seinen Tee zu lange ziehen – vier Minuten anstatt 215 Sekunden, 215 Ticks –, verpasste seine Show im Radio, putzte seine Zähne viel zu kurz und verliess das Haus, gehetzt und in den falschen Schuhen, erst um 08.41. Sein Herzschlag raste, als er den gesamten Weg zur Bushaltestelle sprintete.
Akin verpasste seinen Bus.
Um 08.55 stand er bei der Haltestelle, ausser Atem, durcheinander. Er kam nun zu spät zur Arbeit, seine Routine war durcheinandergeraten und er hatte graue Schuhe angezogen – und alles nur wegen dieser nutzlosen Uhr! Leise fluchend, setzte er sich auf die Bank, nach Luft schnappend, die Digitaluhr an seinem Handgelenk, der Bildschirm schwarz, sie hatte sich selbst abgestellt; ein weiteres Übel. Lieber im Mittelalter als hier, dachte sich Akin bitter.
«Entschuldigung, wissen Sie, wie spät es ist?»
Akin schaute auf.
Eine Frau in seinem Alter lächelte ihn freundlich an, dunkle Locken, schwarze Schuhe. Kleine Kettchen waren um ihr Handgelenk geschlungen; sie trug keine Uhr.
Akin nickte. Er lächelte zurück.
Und sein Herz setzte einen Schlag aus.
Zweitens
Akin ist ein Mann der Gewohnheit.
Jeden Tag, um Punkt sieben, zieht er sich an – einen Anzug mit Krawatte, schwarze Wollsocken und eine Armbanduhr. Er öffnet die Vorhänge in seinem Schlafzimmer, die Gardinen im Wohnzimmer und setzt eine Tasse Pfefferminztee mit Wildblütenhonig auf. Später isst er ein Stück Brot mit Erdbeerkonfitüre und Butter und putzt anschliessend seine Zähne. Und jeden Tag um fünf nach halb acht zieht er seine Schuhe an, küsst seine Frau auf die Wange, gibt ihr die Uhrzeit an, verlässt das Haus und steigt in den nächsten Bus.
Akin ist auch ein Mann der Veränderung.
Er putzt sich nicht mehr genau drei Minuten lang seine Zähne; er geht nach Gefühl. Seine Uhr stellt sich nicht mehr von allein ab, seine Schuhe sind manchmal grau und manchmal schwarz und er isst sein Frühstück nicht mehr um vierzehn nach sieben; er isst, wenn er Hunger hat.
In gewissen Situationen ist es wichtig, die Uhrzeit zu kennen; in anderen nicht. Es ist nicht nötig, das Ticken der Sekunden zu hören, zu hören, wie die Zeit vergeht. Manchmal ist ein schwarzer Bildschirm alles, was man braucht. Manchmal ist es nötig, die Zeit zu vergessen, um zu leben.
Und Akin lebt.
Viviane Blöchlinger ist Schülerin der Klasse 5d.
Illustration: Victoria Schaller