Erzählung
DER TRAUM VOM KOLIBRI
Von Elisa Widmer
Ein junger Mann sass mit dem Rücken an einen knorrigen Nussbaum gelehnt. Es war kein besonderer Tag. Keiner, auf den man sich freute. Es war ein Tag, von dem man nur erwartete, dass er vorüberzog. Das tat er auch, während ihm der kühle Wind durchs Haar strich.
Mit zwei hatte er zum ersten Mal einen Stift in der Hand gehalten. Damals waren seine Kunstwerke aber noch ein Gewirr aus sich windenden Linien und vermischten Farben gewesen. Doch schon damals hatten sie eine Bedeutung: Einmal hatte er einen Dinosaurier, ein anderes Mal ein Boot auf dem Meer gezeichnet. Es waren noch nie «einfach nur Linien» für ihn gewesen.
Das Rauschen im Baum lenkte ihn ab: Wie lange müsste man wohl warten, bis ein Blatt herunterfiele?
Seine Grundschulzeit verbrachte er zeichnend. Er wollte alles zeichnen, was es gab und man sich auch nur vorstellen konnte. Jeden Winkel dieser Welt, mit allen Ereignissen und Menschen verknüpfen. Er wollte die Sterne malen, die Galaxie, das ganze Universum. Jedes einzelne Tier sollte seinen Weg auf das Blatt finden. Was er alles zeichnen wollte, kann man kaum mit Worten beschreiben. Das Wort «alles» war aber einmal ein Anfang. So kam es, dass er überall und mit allen Gefühlen zeichnete: Aufgeregt im Zug, traurig im Zimmer oder nachdenklich in der Schule. Malen bedeutete für ihn die Welt.
Während andere in seinem Alter auf dem Pausenhof herumtollten, malte er. Die liebevoll gezeichneten Kunstwerke stapelten sich in seinem Kinderzimmer. Im ganzen Haus lagen Blätter und kleine bemalte Figürchen herum. So fühlte er sich wohl. Seine Eltern stolperten öfters über seine Blätter und entsorgten auch gelegentlich die Stapel. Er bemerkte es immer, sprach es jedoch nicht an, da er schon wusste, dass sie seine Bilder nicht schätzten. Deshalb hatten sie auch nicht, wie andere Eltern, seine Bilder aufgehängt oder freuten sich über seine Kreativität. Einmal belauschte er seine Eltern, wie sie zueinander sagten: «Ein Ball würde weniger Platz wegnehmen. Wieso ist er denn so? Haben wir ihn falsch erzogen, ihm falsche Ideale mitgegeben?» An diesem Abend zeichnete er einen Ball. Doch er gefiel ihm nicht. Aber das spielte keine Rolle; er hatte ihn gezeichnet, weil er die Zeichnung seinen Eltern geben wollte. Sollte er das Bild jetzt schon seinen Eltern schenken, um sie aufzumuntern? Nein. Zuerst warten.
In der Schule trug er seine Zeichnungen immer in einem Federmäppchen bei sich. Sie gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Eines Tages in der Schule, es war gerade Pause, schnappte sich ein Junge aus seiner Klasse das Mäppchen von seinem Pult, riss die Zeichnungen heraus und verspottete ihn: «Was ist mit dir? Wieso bist du so komisch und zeichnest wie ein Mädchen?» Der Junge und die anderen zerknüllten seine Bilder und bewarfen ihn damit. Währenddessen blieb er einfach sitzen. Er rannte nicht weg oder zog den Kopf ein. Er blieb, bis sie keine Lust mehr hatten, zu werfen, und sie lachend weggerannt waren. Dann sammelte er jeden einzelnen der Bälle ein und entfaltete sie. Die Zeichnung des Hasen entfaltete er als letztes. Als er das knittrige Blatt glattstreichen wollte, hüpfte der Hase aus dem Bild heraus. Fröhlich hopste das haselnussbraune Langohr im Zimmer umher. Er musste unwillkürlich lächeln und kicherte sogar, als der Hase ihn mit seinem hellrosa Näschen beschnupperte.
Als er nach Hause kam, wollte er es noch einmal probieren. Er zeichnete dieses Mal einen blauen Kolibri. Er strich mit der Hand über das Blatt und prompt: Ein kleiner, süsser Kolibri flatterte heraus. Er landete auf seinem Kopf und schaute ihm beim Gestalten seiner nächsten Zeichnungen zu. Der Junge zeichnete so lange, bis sich sein Kinderzimmer in einen Dschungel verwandelt hatte. Es hangelten sich kleine Äffchen an Lianen, die von der Zimmerdecke hingen, ein farbiger Frosch quakte laut, während sich eine Schlange um seinen linken Oberarm schlängelte. Ihm stieg ein erdig-feuchte Geruch in die Nase, während warme Wassertropfen von der Decke fielen. Unglaublich! Das war viel besser, als wie alle anderen zu sein! Der Kolibri auf seiner Schulter zwitscherte fröhlich. Mit grossen Augen erforschte der Junge sein eigenes Zimmer: In der Ecke sass ein riesiger Orang-Utan, der gemütlich eine Banane ass, während ein Papagei sich in Kauderwelsch mit jenem unterhielt. Und da! Er hatte es erspäht: Ein Chamäleon wechselte gerade die Farbe von Blau zu Grün! Zack, plötzlich schnellte seine Zunge heraus, um eine Fliege zu fangen.
In diesem Moment klopfte es.
Seine Mutter öffnete die Türe und trat herein. «Mama, Mama, schau mal, ein Dschungel! Es hat so viele Tiere. Und...und gerade hat das Chamäleon eine Fliege gefangen! Ganz schnell mit der Zunge!», erzählte er eifrig. Doch seine Mutter schaute ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte er jemanden umgebracht: «Da ist nichts. Du musst wirklich wieder einmal vor die Tür, sonst gehst du an deiner Fantasie noch zugrunde.» Er versuchte sie hilflos zu überzeugen und erzählte ihr vom Orang-Utan, dem Kolibri und sogar, wie sie entstanden waren. «Lüg nicht! Ich habe doch Augen im Kopf und da ist nichts!» «Aa..aaber Mama, siehst du es nicht?», fragte er noch einmal. «Nein», sagte sie entschieden und ging aus dem Zimmer.
Noch an diesem Tag hatte er seine ganzen Pinsel und Farben in eine Kiste getan und zugenagelt. Er würde nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen, das schwor er sich. Denn was war all das Wunderbare, was er erschaffen konnte, schon wert, wenn nur er allein es sehen konnte?
20 Jahre waren vorbei und er hatte das Malen lange aufgegeben. Nach dem besagten Tag hatte er nie wieder einen Pinsel angerührt. In der Zwischenzeit hatte er Jura studiert und war Anwalt geworden.
Aber wieso hatte er seinen Traum aufgegeben? Nur weil ihm seine eigene Anerkennung zu wenig war? Nein. Er hatte aufgehört, weil er nicht allein in dieser Welt sein wollte. Er wollte den Dschungel mit anderen erleben. Als Kind will man nicht allein sein. Doch jetzt war es ihm egal. Vielleicht würde er sogar jemanden finden, der seine Leidenschaft teilte.
Ein herunterfallendes Blatt streifte seine Schulter. Der Wind rauschte durch den Baum und wirbelte einen ganzen Haufen Blätter durcheinander. Eine Träne rollte dem jungen Mann über die Wange. Eine Träne für den Feigling, der er gewesen war, seine Träume nicht wahr zu machen.
Er stand auf. Jetzt hatte er genug gewartet.
Elisa Widmer ist Schülerin der Klasse 4a und Teil der Redaktion LGazette.
Illustration: Ethan Crugnola-Humbert (1i SJ 23/24)