Retrospektive
DER SCHIMPANSE IM PARTYKELLER
INTERVIEW MIT MELANIE BAUMGARDT
Von Ava Briem
Dr. med. Melanie Baumgardt ist Kinderärztin in der Flora Praxis in Oerlikon und wohnt mit ihrer Familie im Herzen von Zürich. Sie ist in der DDR aufgewachsen und eine langjährige Familienfreundin, weshalb ich auf ihre Geschichte kam und diese gerne erzählen möchte.
1977
Weltweit: Nuklearunfall im Kernkraftwerk (Kraftwerk Block 1), Tod von Elvis Presley.Deutschland: Deutscher Herbst (terroristische Aktionen durch die Rote Armee Fraktion)
Ava: Wo genau sind Sie aufgewachsen?
Frau Baumgardt: Ich bin in Rostock aufgewachsen, an der Ostsee. Rostock ist eine Hafenstadt, deswegen gab es immer schon einen anderen Input für die Leute. Ich erinnere mich an Momente, in denen man mit dem Westen konfrontiert wurde, in den Einkaufsläden, die «Intershop» hiessen, zum Beispiel. Dort durften wir dann manchmal einkaufen, wenn unsere Westverwandtschaft uns Geld zukommen liess. Und ich durfte mir dann Schokolade oder eine Haarspange aussuchen. Es roch ganz anders in diesen Läden; ich kann mich besonders an die Gerüche erinnern, zum Beispiel an jenen des Waschmittels. Einfach alles war bunt und glänzend, nicht so wie in der DDR. Da wurden einem dann die Unterschiede bewusst, aber ich habe auch einfach die Momente genossen, in denen ich einen Einblick in das andere Leben ergattern konnte. Doch ich war nie unglücklich mit meiner Situation oder habe mich gefragt, warum wir gewisse Sachen nicht hatten.
Ava: Sie sind in einem Land aufgewachsen, in dem es eine Grenze zwischen Ost und West gab. Wie haben Sie diese als Kind wahrgenommen?
Frau Baumgardt: Also damals habe ich die Mauer einfach angenommen, so wie alle Kinder die Umgebung annehmen, in der sie leben. Ich wusste, dass es die Mauer gibt, ich hatte eine Tante aus Ostberlin und deswegen hatte ich die Mauer auch gesehen. Da habe ich Erinnerungen, dass sie mir wahnsinnig hoch vorkam. Aber ich hatte keine Angst davor. Wir hatten auch einige Verwandte, die in den 50er Jahren in den Westen gegangen waren, als es noch keine Mauer gab, und die dort gelebt haben. Die sind uns besuchen gekommen oder haben Pakete geschickt. Daher wussten wir, dass es dort andere Sachen als bei uns zum Konsumieren gab, was natürlich total attraktiv war. Aber es war einfach so, als würde man ein Paket aus einem anderen Land bekommen. Das findet man interessant, aber man möchte nicht gleich dahinziehen.
1981
Weltweit: Attentat auf damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, Entdeckung des HIV-Virus. Deutschland: Die Grünen (Partei) ziehen erstmals in den Bundestag ein, Eröffnung des West-Side-Tunnels (Verkehrsverbindung in Westberlin)
Ava: Und wenn Sie jetzt als Erwachsene zurückschauen, haben Sie dann das Gefühl, es gab Grenzen?
Frau Baumgardt: Ja, auf jeden Fall natürlich. Also rückblickend eben. Als die Grenze dann aufgegangen ist, waren wir natürlich total froh, weil wir das Gefühl hatten, jetzt steht uns alles offen. Alles ist möglich. Und da wurde klar, was vorher halt alles nicht möglich gewesen war. Man hat mit den neuen Freiheiten gelebt, aber es gab auch die schlechten Seiten. Meine Mutter hat ihren Job verloren, gewisse soziale Strukturen in Deutschland sind weggefallen. Und eine riesige Frage war auch: Was haben deine Eltern in jener Zeit gemacht? Also waren deine Eltern in einer Partei oder nicht? Waren sie in der Stasi oder nicht? Usw. In der Generation meiner Eltern, da sind Freundschaften auseinander gegangen, weil man gemerkt hat, dass man hintergangen oder verraten worden ist. Das hat dann neue Grenzen gezogen. Viele sind gefallen und neue sind entstanden.
1989
Weltweit: Revolution in der Tschechoslowakei (friedlicher Sturz des kommunistischen Regimes). Deutschland: Fall der Berliner Mauer, Montagsdemonstrationen* erstmals in Leipzig
Ava: Wie alt waren Sie, als die Mauer fiel?
Frau Baumgardt: Ich war zehn.
Ava: Wie erinnern Sie sich an die Tage, Wochen, Monate davor?
Frau Baumgardt: Das Erste, woran ich mich bewusst erinnere, ist, als die ersten Leute nach Ungarn in die österreichische Botschaft geflüchtet sind. Die sind dann von dort aus nach Österreich oder nach Westdeutschland ausgereist. Damals wurde unter vorgehaltener Hand gesagt, dass viele über die sogenannte «grüne Grenze» (in Ungarn gab es einen Teil, der an Österreich grenzt, der nicht so stark bewacht war) flüchten. Und so sind in dem Sommer 1989 schon viele geflohen. Das ist für meine Eltern aber nie ein Thema gewesen.
Dann gab es aber die Situation anfangs Oktober, als meine Eltern sich von uns verabschiedet und gesagt haben, sie gingen raus, um Freunde zu besuchen, und falls sie nicht zurückkämen, sollten wir uns keine Sorgen machen und zu unseren Grosseltern gehen. Ich habe mich damals gewundert, welche Freunde in Rostock das denn seien, habe das aber als Kind wieder nicht hinterfragt. Mir ist erst Jahre später bewusst geworden, dass sie zur ersten Montagsdemonstration gegangen waren und einfach nicht wussten, ob man von dort wieder zurückkommt. Das war alles sehr unsicher. Später haben meine Eltern mich und meinen Bruder auch mitgenommen, wir sind dann mit Kerzen in der Hand stillschweigend gelaufen oder haben gerufen «Wir sind ein Volk!» und die Internationale gesungen.
Anfangs November ist dann die Grenze aufgegangen. Da kann ich mich erinnern, dass ich aufgestanden bin und meine Mutter meinte, dass die Grenzen heute aufgegangen seien – und dass mein Vater wegen dieser Nachricht geweint hätte. Alle waren total aufgeregt. Ich bin anschliessend in die Schule gegangen, aber von der Klasse mit 25 Leuten war nur die Hälfte da, weil alle sofort in den Westen gegangen sind. Da wurde ich nervös und habe mich gefragt, warum meine Eltern erst so spät fahren. Ich hatte auch Angst, das alles nicht zu sehen.
Ava: Wie waren Ihre ersten, grenzüberschreitenden Begegnungen?
Frau Baumgardt: Also die erste grenzüberschreitende Begegnung war, als wir dann am 16. November 1989 nach Lübeck rübergefahren sind – in unserem Trabant. Ich hatte den Walkman auf, den meine Oma mir mal aus dem Westen mitgebracht hatte, und habe Musik gehört. An der Grenze war es dann aber so laut, weil Leute aus dem Westen, die aufgereiht am Grenzübergang standen, unserem Trabant, also allen Autos, aufs Dach geklopft haben. Das war so laut, dass ich keine Musik mehr hören konnte. Aber es war schön, das Gefühl der totalen Freude zu spüren. Dieser Lärm durchs Klopfen auf unser Dach – das ist mir geblieben!
Dann waren wir in Lübeck. Wir durften uns alle was aussuchen, weil wir 100 Mark Begrüssungsgeld bekommen hatten. Soviel Geld hatte ich vorher noch nie gesehen. Ich suchte mir eine «Bravo» aus, vorne drauf waren der Joker und Batman. Mein Vater wollte anschliessend unbedingt in einen Baumarkt. Wir gingen also rein und dachten, wir seien total modisch gekleidet, weil wir ja immer Kleidung von unserer Westverwandtschaft bekommen hatten und diese auch für DDR-Verhältnisse sehr modisch war.
Aber dann wurden mein Bruder und ich von einer Frau angesprochen. Sie meinte, dass sie sich sehr freue, dass wir jetzt auch hier sein können. Wir wunderten uns, woher sie denn wissen konnte, dass wir aus dem Osten kamen, und erzählten das unseren Eltern. Lacht. Meine Mutter, die immer sehr offen und überhaupt nicht kontaktscheu war, ging dann zu der Frau hin und meinte, dass sie das sehr freue. Und so lernten wir Bärbel kennen. Sie lud uns zum Abendessen bei sich zu Hause ein. Sie wohnten in einem Einfamilienhaus und hatten unten sogar einen Partykeller, so wie das anscheinend in den 80ern so üblich war im Westen. Es stand eine Bar drin, die mit Bastmatten verkleidet war, genauso hatte ich mir immer Hawaii vorgestellt.
Und dann gab es noch diesen Schimpansen, der dort lebte. Lacht. Wir sind fast vom Stuhl gefallen, als wir das gesehen haben. Den hatte der Mann, der Kapitän war, von einer seiner Reisen mitgebracht, und der lebte mit der Familie dort in dem Haus in einem Gehege unten im Partykeller. Das war für mich und meinen Bruder natürlich total abgefahren, und so dachten wir dann auch, jeder aus dem Westen hätte einen Partykeller mit einem Schimpansen. Quasi das Must-Have.
1990
Weltweit: Freilassung von Nelson Mandela (Widerstandskämpfer gegen die Apartheid und erster schwarzer Präsident in Südafrika), Beginn des ersten Golfkrieges (Irak marschierte in Kuwait ein). Deutschland: Offizielle Wiedervereinigung Deutschlands, erste gesamtdeutsche Wahlen
Ava: Wie hat sich euer Leben nach dem Mauerfall verändert?
Frau Baumgardt: Es gab viele Sachen, die sich verändert haben. Ich habe als Kind recht früh begriffen, dass das eine Chance für mich ist. Und dass ich meinen Horizont nun erweiten kann. Wir konnten dann unsere Westverwandtschaft besuchen.
Schwierig mitanzusehen war, dass auch Freundschaften meiner Eltern in die Brüche gingen, weil die Wahrheit ans Licht kam. Meine Mutter verlor ihren Job, es gab plötzlich Existenzängste, die wir zuvor nicht kannten. Plötzlich war nichts mehr sicher und rückblickend denke ich, veränderte sich die ganze Grundlage meiner Eltern völlig.
Für mich veränderte sich auch, dass ich jetzt in die nächstgrössere Stadt fahren konnte, ans Gymnasium, und nicht mehr im Dorf auf der Schule war.
Ava: Wenn Sie heute auf Deutschland schauen: Finden Sie, da existiert noch immer eine Grenze zwischen Ost und West?
Frau Baumgardt: Alles unter Vorbehalt. Ich lebe nicht mehr da, ich kenne jetzt nur die Perspektive von meinen Schulfreundinnen oder meinen Eltern, die immer noch dort leben. Und ja, da muss man sagen, die gibt es noch; es gibt immer noch eine Grenze. Also in den Köpfen. Und das nicht nur bei der Generation meiner Eltern, auch in den Köpfen derer Kinder. Denn es gibt Leute, die wirklich erst nach 35 Jahren in den anderen Teil gereist sind und bei diesen existiert diese Grenze umso extremer.
Es gibt immer noch grosse Unterschiede zwischen Ost und West, zum Beispiel bei den Jobs; im Osten verdienst du für den gleichen Beruf weniger als im Westen. Das wird nach wie vor an junge Generationen weitergegeben. Ich glaube, da sind Leute immer noch sehr in ihrem eigenen Film gefangen, je nachdem wie weit ihr Horizont natürlich reicht. Das merkst du bereits daran, dass die Leute noch nie aus Mecklenburg-Vorpommern oder Thüringen rausgekommen sind. Die haben eine andere Auffassung, als wenn man die Welt bereist hat.
Es gibt also immer noch Menschen, die ihre Vorurteile an die nächste Generation weitergeben, und es gibt nach wie vor Ungerechtigkeiten zwischen der ehemaligen DDR und dem Westen Deutschlands. Eine Grenze.
*Montagsdemonstrationen: Friedliche Demonstrationen, welche demokratische Reformen, Reisefreiheit und die Wiedervereinigung Deutschlands forderten. Diese Demonstrationen spielten eine entscheidende Rolle beim Sturz des SED-Regimes (Staatspartei der DDR).
Ava Briem ist Teil der LGazette-Redaktion SJ 23/24 und Schülerin der Klasse 4c.
Illustration: Robyn Lily Glass-Arnott (1i SJ 23/24)