ANEKDOTE

Der Fall Collini

 

Von Stascha Bader

 

„Guten Abend, liebes Publikum. Willkommen zum heutigen Literaturclub zum Buch ‚Der Fall Collini‘ des Romanautors Ferdinand von Schirach.“ So beginnt Beda die Unterrichtsstunde vor der ganzen Klasse auf Teams. Beda, der den Gesprächsleiter spielt, hat sich in Schale geworfen und trägt auf seinem schwarzen Hemd eine pfiffige, graphitfarbene Fliege. Auch seine eigeladenen Gäste sind in schicken Anzügen auf dem Bild zu sehen. Den Hintergrund haben alle mit einem Blur-Effekt versehen, sodass sie prägnanter in Erscheinung treten. Alle haben darauf geachtet, dass sie gut ausgeleuchtet sind. Beda fährt fort: „Zu meiner Linken ist Herr Levysohn, Dr. der Philosophie.“ Noah: „Guten Abend.“ Beda: „Zu meiner Rechten Professor Seiler.“ Samuel: „Guten Abend.“ Beda: „Gegenüber ist der Anwalt unserer Runde, Herr Spillmann.“ Leon: „Guten Abend.“ Beda: „Und zu guter Letzt unser Historiker, Herr Emch.“ Fritz: „Guten Abend.“

Alle fünf Schüler geniessen es offensichtlich, in ihre Rollen geschlüpft zu sein. Sie sind nicht verlegen, sie kichern nicht, sondern bewahren die angemessene Konzentration und Ruhe. Gesprächsleiter Beda stellt das Buch und den Autor kurz vor. Danach liest Fritz eine kurze Textpassage. Anschliessend bittet Beda Noah um die erste Stellungnahme zum Buch und die Diskussion ist eröffnet. Aber nicht nur die fünf Teilnehmer des Literaturclubs sind aktiv. Die zuschauende Klasse hat den Auftrag, mit dem Stift in der Hand die Wortbeiträge kritisch zu verfolgen und anzumerken, wer zu welchem Zeitpunkt ein gutes Argument vorgebracht hat beziehungsweise wenn eines der Argumente nicht stichhaltig war. Auch gilt es den Gesprächsleiter zu beobachten: Lässt er alle ausgewogen zu Worte kommen? Greift er rechtzeitig ein, um eine ins Stocken geratene Passage aufzulösen? Wechselt er nach einem Thema rechtzeitig zum nächsten?

Vorgängig hat sich die Klasse ausführlich mit Literaturclubs auseinandergesetzt. Wir schauten gemeinsam einen aktuellen „SRF-Literaturclub“ an. Auch „Das Literarische Quartett“, ein Klassiker mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, durfte nicht fehlen.
Was sind die Merkmale eines Literarturclubs? Wie findet man die wichtigen Textpassagen, die man vortragen will? Wie formuliert man seine Argumente auf geschickte und überzeugende Art? All diese Dinge konnte die Klasse anhand der Analyse der praktischen Beispiele notieren und festigen. Parallel dazu hatte jede Gruppe den Auftrag, in einer Buchhandlung ein Buch selbst auszuwählen, selbständig zu lesen und ihren Literaturclub vorzubereiten. Es war interessant zu sehen, dass ganz unterschiedliche zeitgenössische Bücher gewählt wurden: „Der Club“ von Takis Würger, „Auerhaus“ von Bov Bjerg, „Gebete für die Vermissten“ von Jennifer Clement und „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells. Die Lernziele waren: Verbesserung der Lese- und Auftrittskompetenz, der Zusammenarbeit im Team und des argumentativen Denkens.

Noah: „Die Rückblenden in die Kindheit von Leinen wie auch Collini empfand ich als äusserst faszinierend. Sie wirken zu Beginn irrelevant für den Handlungsstrang, doch plötzlich geht einem ein Licht auf und der Zusammenhang wird glasklar erkennbar. Damit ist es dem Autor gelungen, während der ganzen Geschichte die Spannung beizubehalten.“ Fritz: „Nein, da bin ich gar nicht ihrer Meinung, Herr Levysohn. Für mich ging das alles viel zu schnell. Es wurde gar kein Aufbau sichtbar. Dies werde ich ihnen anhand eines Beispiels zeigen ...“ Ja, es geht hart auf hart bei diesem Literaturclub. Die Schüler haben von ihren Vorbildern viel gelernt: Sie scheuen sich nicht, zu widersprechen und schaffen es, ihre Ansichten mit Argumenten und Buchzitaten zu untermauern. Die Klasse dankt es am Schluss mit einem grossen Applaus.

 

 


Dr. Stascha Bader war Deutschlehrer am LG.
Er hat Ende letztes Schuljahr das Pensionsalter erreicht und wendet sich neuen Aufgaben zu.