Essay
Der Apfel fällt nicht weit...
Wie ähnlich sind wir unseren Eltern?
von David Maier
Vielleicht klingt deine Stimme gleich wie die deines Vaters oder du hast dieselben Hände wie deine Mutter. Du hast sicherlich schon einmal solche Ähnlichkeiten bemerkt. Doch wenn du sprichst, sagst du vielleicht ganz andere Dinge als deine Eltern, und die Hände, die denen deiner geschickten Mutter ähneln, sind vielleicht unsicher und zittern. Diese physischen Ähnlichkeiten erkennt man von aussen. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass wir sonst nichts mit unseren Eltern teilen. Warum verhalten sich einige Kinder genauso wie ihre Eltern und manche völlig anders, auch wenn sie vielleicht deren Geschmack teilen? Warum genau werden adoptierte Kinder stärker von ihrem Umfeld beeinflusst als von ihrer biologischen Herkunft? Was ist vererbbar, und was erlernt?
Kindheit und Jugend – Nature or Nurture?
Kinder werden mit einem Teil ihrer noch nicht vollständig entwickelten Persönlichkeit geboren, den sie von ihren Eltern geerbt haben. Diese Seite von ihnen wird jedoch schnell durch den Einfluss der Umwelt überlagert: Kinder lernen von allem, was sie beobachten oder hören können. Voller Begeisterung fangen sie in ihrem sehr jungen Leben an, wichtige Menschen nachzuahmen – selbst wenn es nur kleine Gesten sind.
So haben wir alle gelernt zu lachen und zu sprechen. Diese Phase ist sehr wichtig; man denke beispielsweise an Wolfskinder. So bezeichnet man Kinder, die unter extremen Bedingungen ohne menschlichen Kontakt aufwachsen. Diese Kinder imitieren Tiere und lernen nicht einmal zu sprechen. Es gab Fälle, in denen Kinder sogar bellten. Ein Beispiel dafür ist Oksana Malaya. Wie viele andere Wolfskinder wurde Oksanas soziale Isolation durch familiäre Vernachlässigung verursacht, da ihre Eltern Alkoholiker waren. Da sie mit mehreren Hunden zusammenlebte, begann sie, diese nachzuahmen, und als sie sieben war, verhielt sie sich vollständig wie ein Hund. Oksana wurde im Alter von sieben Jahren von den Behörden entdeckt und in eine Einrichtung gebracht, wo sie sprechen lernte. Im Gegensatz zu ihr schaffen es jedoch viele Wolfskinder nicht, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, weil die ersten Jahre einfach so wichtig sind.
Es ist also das soziale Umfeld, nicht die Genetik, welches in der Entwicklung die grösste Rolle spielt.
Mit der Schule erweitert sich die Welt: Jetzt treffen die Kinder täglich andere Menschen ausserhalb der Familie und haben mit ihnen zu tun. Der grössere Rahmen bleibt jedoch unverändert, da es weiterhin eine klare Hierarchie gibt und Erwachsene – vor allem Eltern und Lehrer – die Vorbilder der Kinder bleiben.
In der Grundschule bilden sich die ersten Freundesgruppen. Das bedeutet, dass es vielleicht schon Vorbilder im gleichen Alter gibt. Eine eigene Kultur zwischen den Kindern entsteht, ohne dass die Erwachsenen Einfluss darauf haben. Dies verstärkt sich mit der Pubertät. In dieser Phase wird es wichtig, eine eigene Identität zu finden. In diesem Alter findet Nachahmung vor allem unter den Jugendlichen statt. Es ist schwer zu übersehen, wie stark Jugendliche nun von Mode – sei es bei Kleidung, Frisuren oder Schuhen – beeinflusst werden. Mit sechs Jahren hätte es dir wahrscheinlich nichts ausgemacht, einen Bowlcut zu tragen, aber jetzt?
Dieses neue Streben nach Unabhängigkeit von den Eltern verletzt die zuvor gut etablierte, akzeptierte Hierarchie und führt zu Konflikten mit den Eltern. Die Intensität dieser Konflikte hängt stark von den Eltern und dem sozialen Druck ab, dem wir als Jugendliche ausgesetzt sind.
Interessanterweise gibt es auch verschiedene Fälle in der Geschichte, in denen sich Erwachsene über Jugendliche beschweren. So stellte Sokrates bereits 399 v. Chr. fest: «Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.»
Klingt das wirklich so, als wäre das vor mehr als 2000 Jahren geschrieben worden? Ich glaube, dass Sokrates Aussage vielem ähnelt, was über die heutige Jugend gesagt wird; egal, ob dies wahr ist oder nicht. Obwohl die gesellschaftliche Realität sich über Jahrhunderte ständig veränderte, waren die Menschen immer Menschen und verhielten sich ähnlich. Dies zeigt auch die biologischen und damit unveränderlichen Faktoren in unserer Entwicklung und unserem Aufwachsen. Unser Umfeld prägt einen grossen Teil unserer Identität, aber wir sind immer noch biologischen Prozessen unterlegen – egal wann oder wo wir geboren sind.
David Maier ist Schüler der Klasse 3i und Teil der Redaktion LGazette SJ 24/25.)
Illustration: Delia Schiltknecht