Erzählung

Das tote Kind von Turicum

von Emily Schnyder von Wartensee


Ein Grabstein oder auch einer der ältesten Funde aus der römischen Zeit. Der Grund, wieso wir wissen, dass die Römer Zürich «Turicum» genannt haben. Das ist, was man findet, wenn man Lucius Aelius Urbicus in die Suchmaschine ein gibt. «Das Wissen, wie die Stadt Zürich zur Römerzeit hiess, verdanken wir einem Einjährigen», heisst es in der Limmattaler Zeitung. Genauer gesagt, war dieser genau ein Jahr, fünf Monate und fünf Tage alt. Und sein Grabstein wirft so viele Fragen auf: Wer war dieser Junge? Wieso hatte sein Vater einen Sklavennamen? Wieso hatte ein armer Junge so einen Grabstein? Und zuletzt: Was ist seine Geschichte? Die Geschichte seiner Familie? Der Grabstein regt dazu an, sich eine solche auszudenken, sich zu überlegen, was geschehen ist und wie es dazu kam, dass die Erinnerung an diesen kleinen Jungen durch diesen Grabstein bis heute, fast zweitausend Jahre später, immer noch existiert. Vielleicht war es in etwa so:

UNIO war mein Name, genauer gesagt mein Sklavenname. Es bedeutet der Einer-Wurf beim Würfelspiel oder auch die besonders grosse Perle. Obgleich ich gerne an der zweiten Bedeutung meines Namens festgehalten hätte, wusste ich, dass die erste weitaus zutreffender war. Ich hatte noch nie eine Chance im Leben, denn ich war ein geborener Sklave. Schon bei meiner Geburt hatte ich also gleich die Eins gewürfelt. Ich war der Abschaum unter den Menschen. Nein, eigentlich war ich nicht mal ein Mensch. Ich war nur Eigentum wechselnder Herren. Wurde ge- und verkauft. Ich arbeitete immerzu hart, bemühte mich, die Achtung meiner jeweiligen Herren zu verdienen. Ihnen zu zeigen, dass ich, obgleich ich keine Bildung genossen hatte, ein kluger Mann war. Doch wie sollte das funktionieren? Ich war schliesslich nur der Sklave, die meistens Herren nahmen mich nicht einmal wahr. Meine einzige Hoffnung war es, irgendwie doch noch die Sechs zu Würfeln. Ich klammerte mich an den Gedanken, ein gnädiger Herr könnte mich durch eine testamentarische Verfügung freisprechen. Es war der einzige Weg für einen Sklaven, frei zu sein, was danach folgte, daran wollte ich nicht denken. Alles war besser als mein damaliges Leben. Diese winzige Chance war mein Grund weiterzumachen, weiter hart zu arbeiten, mich weiter zu beweisen.

Die Jahre zogen an mir vorbei und die Chance auf Freilassung mit ihnen. Es fühlte sich an, als hätte mein Leben noch nicht einmal begonnen; es war, als würde ich in der Unterwelt bestraft werden, ganz ohne jemals eine Chance auf ein ehrliches Leben gehabt zu haben. Der einzige Grund, wieso ich nicht wahnsinnig geworden bin, war ein kleiner Lichtblick, den ich hatte: Aelia, in die ich mich verliebt hatte. Klein war der Lichtblick, weil ich sie niemals heiraten würde – sie war keine Sklavin. Sie war ein echter Mensch. Ich nicht. Was uns verband, kam von innen, es war nicht unser Status wie bei vielen meiner Herren und deren Frauen. Aelia glaubte fest daran, dass jemand das Gute in mir sehen und ich frei sein würde. Sie glaubte daran, dass wir zusammengehörten und dass die Götter uns auch zusammenführen würden. Dies schien allerdings nicht zu geschehen: Wir trafen uns weiterhin heimlich, dachten uns Pläne für unsere gemeinsame Zukunft aus.

Ich hätte gerne so weitergemacht. Frei oder nicht, Sklave oder Bürger. Wenn ich mit Aelia zusammen war, war ich glücklich. Doch ich wusste, dass es ihr gegenüber nicht fair war. Sie war die mutigste und klügste Frau, die ich je getroffen hatte; sie war nicht nur schön, sie strahlte etwas von innen aus, eine Art von Freude am Leben, die sich auf jeden um sie herum übertrug. Sie verdiente alles Glück auf der Welt, das konnte ich ihr nicht geben. Ich würde sehr wahrscheinlich nie frei sein, sie nie heiraten können. Sie durfte nicht auf mich warten, ihr Leben an mich verschwenden. Ich musste sie gehen lassen und ich würde es tun. Doch dann geschah es: Ich wurde an einen gütigen Herrn verkauft, dieser sah das Menschliche in mir. Er sah den ehrlichen Mann, der ich war. Ich hatte seinen Respekt gewonnen und mit ihm meine Freiheit. Nun war ich jemand, ein echter Mensch, ein Bürger. Nun konnte ICH Aelia heiraten, theoretisch zumindest. Praktisch war ich arm. Ein Bürger zwar, aber eben ein armer. Ich konnte Aelia nichts geben, keine Zukunft. Mit mir würde sie zwar keine Eins mehr würfeln, doch nun erkannte ich, wie leichtgläubig ich gewesen war. Das Leben war nicht leicht und schön geworden, nur weil ich frei war. Ich hatte keinen Beruf, kein Geld, kein Dach über dem Kopf. Das sagte ich auch Aelia, diese verstand mich zwar, war aber nicht bereit aufzugeben. Das passte nicht zu ihr, aufgeben. Sie hörte sich in ganz Turicum um, liess kein Lokal aus. Doch niemand wollte einen ehemaligen Sklaven.

Schon wieder war ich kurz davor aufzugeben und schon wieder kam das Glück irgendwie zu mir zurück: Ich wurde beim gallischen Zoll eingestellt. Eine kleine Stelle zwar, aber nun war ich endlich bereit Aelia zu heiraten. Ich würde hart arbeiten und uns ein schönes Leben verdienen. Und so geschah es: Ich arbeitete und arbeitete, wie ich es mein ganzes Leben lang getan hatte und wurde schliesslich sogar Vorsteher des Postens in Turicum. Die Leute redeten, vor allem da ich meinen Sklavennamen behielt, doch das machte mir nichts aus; ich wusste, es war der Neid, der aus ihnen sprach. Irgendwann schien es fast so, als würde ich endlich die grosse Perle wer- den, die ich mir immer gewünscht hatte zu sein. Mein Glück wurde nur noch vollkommener, als Aelia unser erstes Kind erwartete. Ein Baby, so wie ich es einst war, und doch war alles ganz anders.

Ich hatte es tatsächlich geschafft, diesem Ungeborenen eine Zukunft zu schaffen, die für mich als Kind so weit entfernt gewirkt hatte. Dieses Kind, mein Kind, würde keine Eins Würfeln. Kein Sklave, kein Tier sein. Ein Mensch durch und durch. Körper und Geist. Die Monate verstrichen und das Kind wurde geboren. Beide, Frau und Kind überlebten. Es war ein kleiner Junge. Wir nannten ihn Lucius Aelius. Es war ein unheimlich süsses und aufgewecktes Kind, der Eltern ganzer Stolz. Als Zollvorsteher des Postens in Turicum verdiente ich genug Geld für meine Familie. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich, als hätte ich die Sechs gewürfelt. Bis das Schicksal wieder zuschlug. Und dieses Mal härter als je zuvor.
 


Emily Schnyder von Wartensee ist Schülerin der Klasse 3a.
Illustration: Milena Aebi