Reportage

Clash der Gentrifizierung

Kreis 5

von Emilie Krayenbühl und Lisa Leutenegger

 

Lautes Hupen, laufende Gespräche und umherrufende Personen. An den Wänden leuchten Neonschriften, während sich darunter im Eingang Imbissinhaber:innen emotionsgeladen unterhalten. Ein wenig Spanisch da und einige Wörter Französisch dort, einer der multikulturellen Orte und doch im Herzen der Stadt Zürich?

Der Kreis 5, ein Quartier, das sich stets wandelt und keiner so richtig weiss, wohin es die Reise führen wird. Denn einen Weg hat es definitiv schon hinter sich. Den ersten Umbruch des Viertels kriegte vor allem eine Gruppe besonders mit: die Arbeiter. In den 90er Jahren wohnten sie mit ihren Familien im Kreis 5. Jedoch veränderte sich die Lage rasant. Fabriken wurden in Vororte verlegt und ein Umzug war für viele Arbeiter in den meisten Fällen keine Option. Dann trafen Briefe von Immobilienfirmen zu Hause ein und auf einen Schlag mussten ganze Familien aus ihren Wohnungen, um Platz zu machen für schicke Büros oder modernere Lebensräume.
Die Hoffnung auf ein besseres Leben zog sie hierher und dann mussten sie nach zwanzig von Arbeit geprägten Jahren ihre liebgewonnene Stadt verlassen. Doch während die einen Koffer packten, lungerten die anderen auf den Strassen des Quartiers herum. Chaotische Rudelbildungen waren nicht selten zu sehen. Etwa ähnlich häufig sah man halbtote, im Elend versinkende Gestalten, die einfach so da lagen: Drogenabhängige am Platzspitz. Eine Zeit der offenen Drogenszene, die die ganze Schweiz erschütterte, vor allem aber auch das Leben des umgebenen Quartiers prägte. Die Menschen schauten zwar hin, Empörung oder Überraschung blieben jedoch fern. Auch wenn der Platzspitz heute kaum harmloser erscheinen könnte, wirkt die tragische Geschichte in der Atmosphäre des Quartiers nach.

Doch wie sieht es heute aus und wie kam es zur Gentrifizierung des Quartiers? Immer noch sind Teile der Langstrasse und ihre Umgebung Orte, die wir meiden würden, wenn wir alleine nachts unterwegs sind. Doch wie funktioniert das Zusammenleben der Secondhand shoppenden Studenten und dem Alkoholiker, der sich um 9 Uhr morgens das erste Bier am Kiosk kauft? Gar nicht: Es ist ein Clash der Gentrifizierung. Doch genau dieser Zusammenprall ist das, was es ausmacht. Was wäre die Langstrasse schon ohne herumschreiende Gestalten und laute Musik. Und noch mehr, was wäre Zürich ohne die Langstrasse, die einzige Strasse, in der es nicht von stieren Anwaltsbüros wimmelt und der Asphalt nur halbwegs perfekt gegossen wurde?
 

Von leerstehenden Fabrikräumen zu hippen Kaffees und Eisdielen

In unserem ganzen Freundeskreis meinen alle: «Wenn ich mal uszieh, will ich in Chreis 5 oder 3, det ischs eifach en Vibe.» Und wir stimmen ihnen zu: coole Leute, lässige Shops und im Allgemeinen eine super Stimmung. Doch wie kommt es dazu, dass genau diese Kreise momentan so anziehend wirken?

Die Antwort lautet: Fabriken. Obwohl, nein, der Anfang heisst Fabriken. Wir probieren es nochmal und starten mit Fabriken.

Bis Ende der 1960er wurde der Kreis 5 von ihnen dominiert. Viele hohe Räume, die sich eigneten, um Fenster, Möbel oder viele andere Güter herzustellen. Aber Wohnungen? Wohnungen waren inexistent und niemand dachte auch nur im Traum daran, in diesem verlassenen Viertel nur eine Minute mehr als die schon vorhandenen Arbeitsstunden zu verbringen. Als die Industrialisierung ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam alles anders. Die Fabriken zogen weg und was blieb? Viele leerstehende Räume ohne Nutzung. Natürlich waren die Preise entsprechend niedrig. Ganz abgesehen von den vollkommen unästhetischen Räumen, die die Fabriken hinterliessen. Wer wollte denn schon in ein ehemaliges Arbeiterviertel umziehen? Niemand ausser Alternative und experimentierfreudige Künstler:innen. Viele fanden es attraktiv, einen abstrakten Raum als Ausstellungs- und Arbeitsraum zu nutzen und die tiefen Mieten waren das Pünktchen auf dem i.

Von nun an ging alles rasch. Rund um den Limmatplatz eröffneten neue Treffpunkte für Experimentierende. Sie stellten ihre Kunstwerke zur Schau, liessen gemütliche Musik laufen und Passanten dachten sich: Was ist denn hier passiert? Es sprach sich schnell herum in den entsprechenden Kreisen. Ausgerechnet das Industrieviertel, der Kreis 5, wurde zu einem neuen Spot.

Es gibt einfach diese Orte, wo die Stimmung passt. Man läuft durch die Strasse, eine nette Bar da, ein nettes Kafi dort und inspirierende Leute, die einem entgegenlaufen. So geht es uns zum Beispiel, wenn wir neben dem pinken Brocki oder der Ambossrampe den Gleisen entlang spazieren. Tolle Pop-up-Kaffees, die guten Sound ins Strässchen hallen lassen. An warmen Tagen umso mehr. Leute sitzen plaudernd draussen, lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen und lecken im besten Fall noch an einem Eis. Vibe complete!

Und da kommen wir zur Fortsetzung unserer Erzählung, denn nichts könnte diese so gut darlegen wie die Eisdiele an den Gleisen gleich zu Beginn des Kreis 5: die Gelateria di Berna. Man kennt sie vermutlich und einige sind wie wir regelmässige Kunden:innen. Sie machen nicht nur das beste Eis, sondern liefern auch eine super Atmosphäre mit fairen Preisen. Schon beim Eintreten wird einem warm ums Herz und man wird mit einem freundlichen Lächeln begrüsst. Doch wo hat sie ihren Ursprung?

Stadtplanerin Katrin erzählt uns im Interview: «Es isch emal nume sones Glacelädeli gsi.» Genau in der gleichen Strasse, genau in demselben Gebäude und neben denselben Gleisen. Die Fabriken waren

draussen, günstige Wohnungen frei. Da dachte sich ein erfinderischer Hobbyeismacher: Warum versuche ich meine Ware nicht mal zu verkaufen? Es dauerte nicht lange, bis alle auf den Geschmack der interessanten Eissorten wie Basilikum-Erdbeere oder Apfel-Gurke kamen und ein halbes Jahr später beantwortete er seine Frage selbst: ein Riesenerfolg. Mit der steigenden Popularität seines Viertels stiegen auch seine Umsätze und sein Name war in aller Munde. Die kleine Eisdiele und ihr ganzes Umfeld waren nun hip. Demzufolge wollten immer mehr Geschäfte in dieses Gebiet umziehen. Und was kennen wir alle vom Wirtschaftsunterricht? Hohe Nachfrage gleich hohe Preise. Somit stiegen gleich nach den Einnahmen auch die Mietpreise. Gleichzeitig dauerte es nicht lange, bis Investoren den Erfolg bemerkten. Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Teil der Gentrifizierung.

Abschauen als Weg zur Gentrifizierung

Während der passionierte Eismann weiter an seinen Eissorten pröbelt, sprach sich die geniale und erfolgreiche Marktidee rum. Und wie wir es alle einmal bei unseren älteren Geschwistern gemacht haben, so funktioniert es auch in der Marktindustrie: abschauen und nachmachen. Nur ist es diesmal weniger Herumpröbeln, sondern eine klarere Marktidee mit mehr Vorwissen. Und so etablierte sich aus der Grundidee des Eismanns eine kleine Kette: die Gelateria di Berna. Nun denkt man: Toll, dann gibt es ab sofort halt allerlei Eisdielen im Kreis 5. Doch leider ist das Ganze nicht so simpel. Denn Platz gibt es nur für die, welche die Miete bezahlen können. Diese wurden nämlich einer ständigen Erhöhung unterzogen. So stiegen zwar mit dem Aufschwung des Quartiers die Einnahmen des Einzelverkäufers, doch nicht proportional zu den Mietpreisen. Bis es eines Tages nicht mehr über die Runden reichte. Es stand fest: Der Eismann muss raus. Wo jemand geht, kommt jemand neues. Wenn dein Bruder vor dir auf einer Eisplatte ausrutscht, dann lernst du daraus, gehst vorsichtig darüber und rutschst nicht aus.

Ähnlich konnten auch nachziehende Firmen von ihren Vorbildern lernen. Sie hatten nun Finanzberater:innen, kluge Verkaufsstrategien und passten allenfalls ihre Verkaufspreise an. So stapfte die Gelateria di Berna in die Fussstapfen des kleinen Eisladens. Und wer hätte es gedacht? Bis heute lebt der Eismann mit seiner Idee tief im Herzen von Zürich weiter. Nur neuerdings in einer Form der Gentrifizierung.

So ging es nicht nur dem Eismann, sondern so ziemlich allen, die damals wegen der tiefen Preise gekommen und wegen den hohen Preisen geflohen waren: Künstler:innen, Student:innen sowie Imbissbesitzer:innen. All diejenigen, die das einst ausgestorbene Viertel wiederbelebten. Sie zogen weiter Stadt auswärts, wohin sie die tiefe Preise halt trieben. Und dort findet derselbe Kreislauf einen neuen Anfang, immer und immer wieder.

Dies natürlich nicht nur im kleinen Stil, wie bei der Eisdiele, sondern eher nach dem Motto: Aus klein wird gross. Rasch wurde die begonnene Gentrifizierung auch bei grosse Gebäuden und Institutionen sichtbar, so wie beim Toni-Areal.
 

Zuerst Fussballstadion, dann Molkerei und schlussendlich ZHdK

Machen wir eine kleine Zeitreise, um uns die Entwicklung des Toni-Areals genauer anzuschauen. 1924 wurde das Fussballstadion Förrlibuck durch den Fussballclub Young Fellows feierlich eingeweiht und bereits eine Woche später fand dort, wo heute das Toni-Areal steht, das erste Länder- spiel vor rund zwanzigtausend Zuschauern statt. Die Schweiz ging nicht leer aus und konnte diese Partie, gegen Ungarn, mit vier zu zwei Toren für sich entscheiden. Fussball wurde im Förrlibuck noch bis 1972 gespielt, dann ergriff die Stadt Zürich ihre Chance und erkor den Rasen und die Umgebung zu ihrem Eigentum. Aus grün wurde grau, denn das Hardturmviadukt ragte plötzlich aus dem Boden. Jenes verband, in der Verlängerung des Käferbergtunnels, den Bahnhof Oerlikon mit dem Hauptbahnhof und dem Bahnhof Altstetten.

Es dauerte natürlich nicht lange, bis der nächste Kunde Schlange stand. Der Milchverband Winterthur erwarb durch einen Landabtausch mit verschiedenen Liegenschaften an der Militär- und Langstrasse das zwischen dem Bahnviadukt und der Duttweilerstrasse gelegene Grundstück von der Stadt Zürich.

Im September des gleichen Jahres stand dem Bau der gigantischen Molkerei nichts mehr im Weg. Vorgesehen war eine Produktion, welche sich auf stolze eine Million Liter pro Tag ausrichtete. Bei dem sichtbaren Betonklotz, mit einer Abmessung von neunzig auf hundertsiebzig Metern, handelte es sich also um einen reinen Zweckbau. Hinter der garstigen Fassade verbarg sich aber eine äusserst komplexe Maschinerie zur Entgegennahme, Lagerung, Verarbeitung, Verpackung und Spedition von Milch und der daraus hergestellten Produkte. Bis das gute Stück fertig war, dauerte es weitere fünf Jahre und 1977 wurden dann endlich des Milch-Gigantens Tore geöffnet. Hundertdreiundsiebzig Millionen kostete die ganze Geschichte, die Toni-Molkerei wurde zur grössten Molkerei Europas.

Das Krönchen wurde dem Toni-Areal metaphorisch aufgesetzt, als King Charles, damals noch Thronfolger, den 350 Angestellten und der Anlage einen Besuch abstattete.

Nachdem die königliche Majestät wieder abgezogen war, folgte die Geburt des Toni-Glases. Als Reaktion auf den Ölpreisschock und die steigenden Rohstoffpreise, forderte Toni die Konsument:innen auf, einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten und brachte so das Glas mit seinem wiederverwertbaren Kunststoffdeckel auf den Markt. Dies mit Erfolg, denn der Absatz des Toni-Jogurts verdoppelte sich innerhalb eines Jahres, das Produkt ist bis heute ein Verkaufsrenner geblieben.

Nachdem in den achtziger und neunziger Jahren im Bereich der Milchverarbeitung grosse Überkapazitäten entstanden waren, neigte sich die Toni-Ära dem Ende zu. Im Jahr 1999 beschloss die Swiss Dairy Food AG die Tore der Molkerei für immer zu schliessen. Die Liquidierung folgte dann im Jahr 2000 und der Betrieb wurde nach Gossau verlegt.

Das Gebäude an guter Lage im aufstrebenden Stadtteil Zürich-West sollte daraufhin zu einem Bürohaus umgebaut werden. Doch mussten zunächst neue Nutzungen gefunden werden, da der wirtschaftliche Rückgang zu Beginn des neuen Jahrtausends, viele Bürogebäude leer stehen liess.

Daraufhin wurde das Areal durch kulturelle Aktivitäten wieder zum Leben erweckt. Bekannte Clubs wie die Tonimolkerei, das Rohstofflager und die Dachkantine waren ein wichtiger Bestandteil des Zürcher Nachtlebens. In der Tonimolkerei belebte nicht nur laute Musik die Halle, sondern 2002 auch eine Abstimmungsurne. Die «Vote-in-Uno-Party» hatte das Ziel «junge Menschen zu erreichen, die sonst nicht abstimmen gehen», erklärte damals Mitorganisator Thomas Haemmerli und hineingelassen wurde nur, wer sein Abstimmungscouvert oder einen Ausländerausweis vorweisen konnte. Aber nicht nur das Tanzbein und die Stimmzettel wurden geschwungen, nein, auch Sport wurde betrieben.

Am 3. März eröffnete Nike in Zürich eine aussergewöhnliche urbane Eventhalle auf dem Toni-Areal, in der über einen Monat lang sechs Tage in der Woche «schöner Fussball» zelebriert wurde, deshalb auch der Name Joga bonito.
Für Kunstliebhaber:innen war das Toni-Areal allerdings auch ein Go-to-Spot, denn es fanden regelmässig Kunstausstellung aller Art statt.

2005 fiel dann der Entscheid, dass auf dem Toni-Areal die Zürcher Fachhochschulen entstehen sollte. Einige juristische Auseinandersetzungen sorgten zwar für Verzögerungen, doch Anfang 2011 begann der Umbau. Auf dem Gelände entstand nebst dem Campus ein Wohnturm mit neunzig Wohnungen und zweiundzwanzig Stockwerken. Heute befinden sich auf dem Toni-Areal die Zürcher Hochschule der Künste und Teile der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Der stolze Molkereibetrieb von einst existiert also nur noch dem Namen nach. Doch das Toni-Jogurt lebt in den Kühlregalen der Schweizer Einkaufsläden weiter.

Die Industrie machte das Areal anfangs eher semi-attraktiv und es war lediglich ein gigantisches Euter. Als aber der Kreis 5 hip wurde, rief das förmlich nach einer Veränderung. Die Architektur modernisierte sich und neue Möglichkeit wurden eröffnet. Man darf aber nicht vergessen, dass hinter den neuen Fassaden, Geschichten von Veränderungen, Identitätsverlust und sozialen Spannungen stehen. Die Herausforderungen der Gentrifizierung liegen darin, die kulturelle Vielfalt zu bewahren und gleichzeitig Raum für eine inklusive Entwicklung zu schaffen, ohne die Seele des Stadtteils schwinden zu lassen.
 


Emilie Krayenbühl und Lisa Leutengger sind Schülerinnen der Klasse 5b.

Bild: Delia Schiltknecht