Essay

Bin ich schön?

von Emily Schnyder von Wartensee

Bist du schön? Hast du schon mal in den Spiegel geschaut und dir diese Frage gestellt? Hast du jede Pore und jeden Makel deines Gesichtes analysiert? Hast du dich hässlich genannt? Deine Nase oder deine dicken Beine verflucht? Ich schon. Vielleicht sollten wir uns mal distanzieren, mal weg vom Spiegel stehen. Sich hinsetzen, kurz abschalten, den Laptop aufklappen, YouTube öffnen, sich ablenken. 

«Die 10 absurdesten Schönheitsideale» lautet der Titel des YouTube-Videos, das ich nun nachdenklich anklicke. Wer definiert denn genau, was so absurd ist? Ist es nicht absurd, dass ich mir jeden Morgen eine halbe Stunde lang Farbe ins Gesicht schmiere, um mir besser zu gefallen? Wieso finde ich das schön? Diese roten Bäckchen, die schwarzen Striche, die sich lang und schmal um meine Augen ziehen und sie angeblich unterstreichen. Die Wimpern, die ich jeden Tag so intensiv biege und tusche, dass sie wahrscheinlich bald alle abbrechen. Dann sehe ich aus wie eine dieser blassen Adelsfrauen im Mittelalter mit hoher Stirn, die sich jeden Tag die Augenbrauen und Wimpern wegzupften. Ich muss grinsen. Wie kommt es, dass Menschen diese eierartigen Gesichter einmal als das Ideal der westlichen Schönheit angesehen haben? Vielleicht kommt das auch im YouTube-Video vor, absurd finde ich es nämlich schon. Naja, ich bin auch nicht gerade besser, noch gestern habe ich mich gefragt, ob ich denn jetzt einen positiven oder negativen Canthal-Tilt habe, also, ob meine Augen im richtigen Winkel stehen. Und ob ich denn nun Legging-Legs habe, also ob eine Lücke zwischen meinen Oberschenkeln ist und diese dünn genug sind. Sonst sollte man nämlich laut TikTok keine Leggings tragen. Wenn ich so darüber nachdenke, dann sind dies tatsächlich sehr abstruse Schönheitsideale. Ich wende mich wieder dem Video zu. «Nummer eins», höre ich den Sprecher sagen. Seine Stimme ist tief und autoritär – als hätte er jedes Recht dazu, von allen absurden Schönheitsidealen dieser Welt die Top Ten auszusuchen. 

«Tellerlippen» – Eine junge Frau aus dem afrikanischen Mursi-Stamm mit einer grossen, verzierten Tonscheibe in ihrer Unterlippe erscheint auf dem Bildschirm. Weiter verrät das YouTube-Video, dass der Stamm die Tradition weiterführe und sich gegen Geld mit Touristen ablichten lasse. Ist das nicht im Kern immer das gleiche Prinzip, wenn Menschen ihren Körper präsentieren, um Geld zu verdienen? Wir sehen es bei Models, Influencerinnen oder auch bei Schauspielerinnen, die sich in Rollen pressen, um dem westlichen Ideal zu entsprechen. Die einen tun es freiwillig, die anderen folgen einem jahrhundertealten Brauch – und alle werden dabei bewertet, begafft und vermarktet. Nur, wer entscheidet, welche dieser Körperinszenierungen passend und welche absurd sind? Wie kommt es zum Beispiel, dass der Sprecher der «10 absurdesten Schönheitsideale» dicke Botox-Lippen nicht erwähnt? Für mich sind diese genauso absurd.  

«Nummer 2», kündigt der Sprecher an, «Fettleibigkeit». Ich horche auf: Top 10 absurdeste Schönheitsideale und «Fettleibigkeit» hat es in die Liste geschafft? Ich denke an die ganzen abgemagerten K-Pop-Stars Südkoreas, die pro Tag vielleicht eine halbe Erbse essen und deren Leben und Karriere zusammenbricht, wenn sie mehr als 50 kg wiegen. Das Gewicht dieser sogenannten «Idole» wird sogar von ihren Managements publiziert und im Internet werden sie dann verglichen: «Comparison: K-Pop Idols weight (female)» lautet der Titel eines anderen YouTube-Videos. Ich persönlich finde das Vergleichen von magersüchtigen Frauen im Netz und das Idealisieren von Untergewicht und Essstörungen absurder als eine dickliche Frau.  

Dann starre ich wieder auf den Bildschirm, wo mir nun komplett normal aussehende dunkelhäutige Frauen in bunten Kleidern entgegenlächeln. Etwas Absurdes kann ich an dieser Szenerie nicht finden. Bis mir die tiefe Männerstimme erklärt, dass diese mauretanischen Mädchen eigentlich wie K-Pop-Idole sind, nur dass sie das andere Extrem verkörpern. Sie müssen täglich 20 Liter Kamelmilch trinken, schädliche Medikamente einnehmen und dürfen sich kaum bewegen. Diese Mädchen werden sogar von Aufseherinnen bewacht, die ihnen das Erbrochene zurück in den Rachen zwingen, falls die Mädchen ihre Mästung nicht mehr vertragen. Mir wird schlecht. Wie krank ist das denn? Wie kann es sein, dass wir immer wollen, was wir nicht haben? Im Westen, wo Essen so erschwinglich wie noch nie ist, bricht der Schlankheitswahn aus, und in Mauretanien, wo jeden Tag Leute hungern, werden die Reichen gemästet. Es ist so traurig und absurd, fast dystopisch.  

Wieso sind wir Menschen denn so? Vielleicht fühlen wir uns unzufrieden und denken, wir würden glücklich, wenn wir das Unmögliche schaffen. Wenn wir unsichtbare Grenzen überbrücken, wenn wir mehr haben als andere, wenn wir das haben, was sonst niemand hat. Welche Frau hat schon riesige Brüste und eine Wespentaille? Fast keine. Deshalb wollen alle genau das. Ich frage mich, was die alten Griechen von den heutigen Idealen denken würden. Sie bewunderten die Göttin der Schönheit Aphrodite, die schlank dargestellt wurde, jedoch trotzdem rundlich, kein Waschbrettbauch, keine «Modelfigur». Der Heroin-Chic der 90er Jahre, der in den letzten Jahren immer mehr sein Comeback feiert, hätte man dazumal in keiner Sage gefunden. Der Drang, schlank zu sein, kam erst, als der Westen genug zu essen hatte. 

Wir wollen alle gleich sein, alle wollen dünn sein, alle wollen volle Lippen, eine kleine Nase. Und doch wollen wir alle eben anders sein. Hätten alle eine kleine Nase und grosse Lippen, fänden wir diese vielleicht abstossend. Ist normal hässlich? Ist Schönheit selten? Oder eben nicht, weil Schönheit immer gleich ist? Wenn es zwei Menschen auf der Welt gäbe, die unterschiedlicher nicht sein könnten, wer wäre dann der Hässliche, wer der Schöne? Würde man sich nach dem Aussehen des anderen sehnen? Nach allem, was man nicht ist, nicht sein kann, nie sein wird? Vielleicht spielen wir uns selbst einen Streich. Vielleicht können wir also auch selbst entscheiden, was schön ist. 

Klappe den Laptop zu, stehe auf, zurück zum Bad. Schau nochmals in den Spiegel. Schau nochmals ganz genau. Versuche, alles auszublenden. Versuche, dich einmal neutral zu betrachten, ohne die Ideale, die dir in den Kopf gesetzt wurden. Gibt es nun noch etwas an dir, das nicht schön ist? Wenn ja, dann begründe es, ohne absurd zu klingen. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Vielleicht ist es dir auch zu anstrengend, vielleicht war es für dich einfacher, als du eine Vorstellung davon hattest, was schön ist. Vielleicht bist du nun verwirrt. Du schaust auf deine Nase, auf deine Oberschenkel, hast vergessen, wie du sie findest. Hast vergessen, ob du Leggings tragen darfst oder nicht. Hast vergessen, ob du dünn oder rundlich sein musst. Vielleicht ist es auch das erste Mal, dass du dich wirklich siehst. Du schaust in den Spiegel. Bist du schön? 


Emily Schnyder von Wartensee ist Schülerin der Klasse 4a und Teil der Redaktion LGazette SJ 24/25. 
Foto: Melody Metzger